Ab heute im Kino: Jonathan Littells Regiedebüt „Wrong Elements“ Kinonews | 27.04.2017

Opfer, die zu Tätern werden. So könnte der Film benannt sein, den der Autor Jonathan Littell 2015/16 über mehrere Monate mit ehemaligen Kämpfern der 1989 von Joseph Kony zum Sturz des ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni gegründeten „Lord’s Resistance Army“ (LRA) gedreht hat. Denn diese jungen Menschen waren zunächst Opfer: Sie waren noch Kinder, als Truppen dieser mystisch-religiösen, vom südsudanesischen Dschungel aus operierenden „Widerstandsarmee des Herrn“ ihre Dörfer überfielen, Angehörige vor ihren Augen ermordeten und sie selbst verschleppten.

Um Soldaten zu rekrutieren, die ihrerseits zu Mördern wurden. Mehr als 60 000 Kinder und Jugendliche waren es in 25 Jahren, und weniger als die Hälfte kehrte lebend aus dem Busch zurück. Littell, der vor 10 Jahren den sensationellen und viel diskutierten Holocaust-Tatsachenroman „Die Wohlgesinnten“ veröffentlichte, nannte sein Regiedebüt – auch im französischen Original – „Wrong Elements“. Er bezieht sich dabei auf eine Aussage von Konys Cousine Alice Lakwena, der geistigen Anführerin der ersten Aufstände im Norden Ugandas: Sie erklärte, dass „dieser Krieg alle falschen Elemente der Gesellschaft beseitigen“ solle.

Damit schuf sie die ideologische Grundlage für die „Erziehung“ der Kinder zu gefügigen Vollstreckern der Anordnungen des selbsternannten, angeblich vom Heiligen Geist geleiteten Heilsbringers Kony: Geofrey, der als 13-Jähriger entführt und zwangsrekrutiert wurde und heute wieder Kontakt zu seiner Familie hat, erinnert sich an das Lob seiner „Lehrer“, wenn er das Richtige tat, indem er das Falsche beseitigte – und wie wichtig ihm diese Anerkennung war.

Es war aber nicht allein dieses Gefühl, Recht zu haben, ein Wegbereiter für Konys christlich-theokratischen Staat zu sein, das ihn zum Täter werden ließ. Ausschlaggebend sei weniger die Gehirnwäsche gewesen, sondern vielmehr die Angst, bei Ungehorsam misshandelt oder erschossen zu werden. Das bestätigen auch Geofreys Kumpel Michael und die junge Frau Nighty, die ebenfalls vom LRA aus Uganda verschleppt und in deren Basislager im Südsudan zu seinen Freunden wurden. Oft mussten sie Augenzeugen sein, wenn andere Kinder zur Strafe für Befehlsverweigerung getötet wurden – eine „Erziehungsmaßnahme“, die man auch von anderen totalitär-fundamentalistischen Terrororganisationen kennt.

Jonathan Littell, der sich durch jahrelange NGO-Arbeit und viele Recherchereisen bestens in den verschiedenen Krisengebieten der Welt und speziell in Ostafrika auskennt, liefert durch immer wieder eingeblendete Textpassagen fundierte historische Hintergrundinformationen zu den persönlichen Geschichten von Nighty, Michael und Geofrey, die heute so um die 30 Jahre alt sind. Diese Spots beleuchten indessen nicht nur den politischen Kontext, sie ermöglichen den Betrachtern des Films auch eine Atempause. Denn das, was die drei – und auch die völlig vereinsamte und nach 12 Jahren im Busch psychisch kranke Evelyn Lapisa – berichten, ist nur sehr schwer zu ertragen.

Von der aktiven Teilnahme an Massakern an der von Kony angeblich gegen das ugandische Militär verteidigten Zivilbevölkerung ist da die Rede, von Misshandlungen der Zwangsrekrutierten, von Vergewaltigungen der Mädchen, die Kony und anderen LRA-Kommandanten „geschenkt“ wurden. Davon, dass man sich irgendwann „an das Töten gewöhnt“ hatte, dass man es „nicht mehr als Verbrechen“ empfand. Davon, dass die Todesangst sämtliche Lebensbereiche beherrschte.

Littell kommt seinen Protagonisten während der Gespräche sehr nahe – insbesondere auf gemeinsamen Reisen zu einigen Orten ihrer geraubten Kindheit. Etwa dort, wo einst ihr Basislager stand, von dem es heuet keine Spur mehr gibt: Ohne dass der Regisseur viel fragen muss, sprechen sie über ihre Erlebnisse, rekonstruieren spontan Horror-Szenen, die ihr damaliges Leben prägte – es wirkt wie ein Kinder-Kriegsspiel. Und wie Kinder toben sie ausgelassen im Busch herum – um dann plötzlich innezuhalten, um sich gegenseitig zu bekräftigen, dass Angst und Schrecken nun vorbei sind.

In dieser Dynamik wird deutlich, wie sehr sie noch in diesem anderen Leben gefangen sind, wie schwierig der Rehabilitationsprozess ist. Und wie wichtig es ist, über das Vergangene zu sprechen, vielleicht sogar Vergebung zu erhalten: Als Geofrey zusammen mit dem Filmemacher in ein Dorf zurückkehrt, in dem er einst „wie von Geistern besessen“ mordete, trifft er mit einer alten Frau zusammen, die damals ihre ganze Familie verlor. Mit seinen Gefühlen und nach Worten ringend, gibt Geofrey sich als Täter zu erkennen, sagt, wie sehr er das Geschehene bereut – und findet Verzeihung. Die für ihn, sagt er, einer Befreiung gleichkommt.

Nur in dieser äußerst berührenden Szene am Ende des Films fragt Littell konkret nach, fragt nach Schuldgefühlen, nach der Ambivalenz, zugleich Opfer und Täter zu sein. Und bekommt Antworten, die dem Protagonisten sichtlich schwer fallen. Er hat einen starken Film geschaffen, der die gewaltsamen Mechanismen aufzeigt, die heute etwa vom IS angewendet werden, der ja auch Jugendliche für seine Ziele zwangsrekrutiert. Insofern ist der Film brandaktuell und sollte von vielen Menschen gesehen werden. Auch wenn das Gezeigte fast nicht zu ertragen ist. Zumal der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Kriegsverbrecher gesuchte Joseph Kony immer noch frei herumläuft.

Text: Erika Weisser / Bilder: © Veilleur de Nuit, Neue Visionen Filmverleih

Wrong Elements
Frankreich; Belgien; Deutschland 2016
Regie: Jonathan Littell
Dokumentarfilm
Verleih: Neue Visionen
Laufzeit: 133 Minuten, OmU
Kinostart: 27. April 2017 im Kino Friedrichsbau, 21.10 Uhr