Arbeitsprojekt bietet Ex-Kriminellen wieder Perspektive STADTGEPLAUDER | 12.11.2016

Strafvollzug ohne Perspektive ist ein schweres Verbrechen“, formuliert der Philosoph Andreas Trenzer durchaus trefflich. Aber wer bietet Menschen, die nach langen Jahren aus der Haft entlassen werden, wieder eine Perspektive? In Freiburg etwa der Bezirksverein für soziale Rechtspflege. Hier können ehemalige Sträflinge eine neue Heimat finden. Hier können sie wohnen, essen, sich beraten lassen – und auch arbeiten: Im Arbeitsprojekt des Vereins machen sie gemeinsam Haushaltsentrümpelungen, Umzüge oder Waldarbeit (siehe Infobox). Einer hat dabei mal 10.000 Euro gefunden – sie aber nicht eingesteckt.

Vier Männer, ein Ziel: Die beiden Ex-Gefangenen Peter und Max (von hinten), Andreas Aloisi (Zweiter v.l.) und Andreas Hofmann vom Arbeitsprojekt vor dem Vollrath-Hermisson-Haus in der Wiehre.

Vier Männer, ein Ziel: Die beiden Ex-Gefangenen Peter und Max (von hinten), Andreas Aloisi (Zweiter v.l.) und Andreas Hofmann vom Arbeitsprojekt vor dem Vollrath-Hermisson-Haus in der Wiehre.

Es ist acht Uhr morgens. Hinter der schicken gelben Fassade der Wiehre-Villa in der Brombergstraße 6 treffen sich keine Ärzte, Anwälte oder Burschenschaften. Die Luft ist voll mit Rauch und Kaffeegeruch. In einem verglasten Raum zünden sich Männer eine Zigarette nach der anderen an. In einer Ecke steht etwas verloren ein Duftbaum gegen den Rauch – als sei es ein Scherz.

Kaffee und Tabak, das Knastgrundnahrungsmittel und Knastwährung. Die Männer, die sich hier treffen, sind wieder auf freiem Fuß, Kaffee und Kippen im Takt sind ihnen aber geblieben. Sie sind im Arbeitsprojekt beim Bezirksverein für soziale Rechtspflege. Das Vollrath-Hermisson-Haus in der Wiehre ist ihr Basislager.

Einsatzbesprechung im Raucherraum: Andreas Aloisi, ein entspannter Bärtiger mit badischem Akzent, ist verantwortlich für den heutigen Arbeitseinsatz, er macht die Ansagen. Der badische Akzent sticht zwischen sächsischem und pfälzischem Dialekt heraus. Viele der Ex-Häftlinge, die sie hier Klienten nennen, kommen nicht aus der Region. Sie sind durch ihre Haft im Freiburger Gefängnis hier gelandet.

Es steht ein Umzug auf dem Plan. Noch einen Kaffee und eine Kippe, die Mannschaft schwingt sich in zwei Transporter, fährt in Richtung Dreisamstraße. Mit dabei ist Peter*. Er trägt schwarze Handwerkerkleidung und eine Mütze mit Norwegenflagge. Peter ist 42, groß und dürr, steht breitbeinig und raucht wie die anderen. Heute hat er eine Freundin und zwei Kinder, um die er sich kümmert. Er steht fast so breit im Leben wie seine Beine, aber das war und ist ein schwieriger Weg dorthin.

Als er 18 ist, stirbt seine Mutter. Er kommt damit nicht zurecht und fängt an, Heroin zu nehmen, direkt intravenös. „Ich habe immer nur ein bisschen genommen, um den Kopf frei zu kriegen. Da wird alles warm und man fühlt sich wohl.“

Irgendwann merkt Peter, dass er wieder runter will. Er möchte kalt entziehen und braucht dafür den Knast, den Bruch zum Umfeld, die Isolation, erzählt er heute. Damals brauchte er aber auch das Geld für neues Heroin und überfällt mit Maske und Gaspistole einen Kiosk mit einer Gewinnspielannahme. Er wird gefasst und wandert hinter Gitter.

Die Jahre danach ist er mal draußen, mal im Gefängnis. Erst schafft er den kalten Entzug, wird nach seiner Entlassung aber wieder rückfällig. Er erzählt, dass Drogen im Knast eigentlich genauso gut zu bekommen sind wie draußen, auch wenn er das nie gemacht habe.

2010 wird er entlassen, ist clean, findet eine Freundin, die zwei Kinder mitbringt. „Ich wollte, wenn ich die Droge nehme, nie eine Beziehung.“ Er schafft den Sprung ins Arbeitsprojekt des Bezirksvereins. Es sieht gut aus für ihn. Aber irgendwann wird der Druck mit der Arbeit und der neuen Familie zu groß – er wird wieder rückfällig.

Zwei Jahre lang kommt er nicht mehr zum Projekt. Seine Beziehung aber überlebt den Rückfall. „Das war schon zu eng bei uns. Die brauchen mich und ich sie.“ Seit zwei Jahren arbeitet er wieder mit. Jetzt holt er sich jeden Morgen seine Dosis Methadon ab, um den Suchtdruck klein zu halten, geht danach ins Vollrath-Hermisson-Haus, um zu arbeiten, und kümmert sich ansonsten um seine Familie.

Peter erzählt das alles sehr ruhig, er steht zu seiner Lebensgeschichte. Nur als das Gespräch auf den Kiosk-Betreiber zusteuert merkt man, dass es ihm unangenehm ist. Der wollte von ihm und einem Täter-Opfer-Ausgleich nichts wissen, sei traumatisiert.

Die Sprinter fahren in einen Hinterhof an der Dreisam. Schnell bilden die sechs Männer, die heute dabei sind, eine Kette in den zweiten Stock. Nicht alle tragen Arbeitskleidung wie Peter, sondern einfach nur Jogginghose und Sneaker. Das Büro vom Roten Kreuz ist in einer halben Stunde leergeräumt. Dass das Schloss an meinem Fahrrad zu dünn ist und man es mit Eisspray und Schraubenzieher leicht geknackt bekommt, wird mir en passant versichert.

Oft sind die Auftraggeber fürs Arbeitsprojekt soziale Einrichtungen. Viel läuft über mündliche Werbung. Aber auch Privatkunden beauftragen die „Ex-Knackis“. Insgesamt sind 18 Männer im Team. Manche werden vom Jobcenter vermittelt und arbeiten etwa 20 Stunden die Woche für 1,50 Euro die Stunde. Wenn die Maßnahme nach ein oder zwei Jahren ausläuft, bietet das Arbeitsprojekt ersatzweise eine Praktikantenstelle auf Minijob-Basis.

Das ist zwar nur eine kleine Zugabe zur Sozialhilfe, der Kern der Arbeit sei aber ohnehin mehr pädagogisch als finanziell, meint Leon Schattner, der Sozialwissenschaftler im Projekt. Es gehe darum, den Ex-Häftlingen durch eine sinnvolle Beschäftigung den Tag zu strukturieren und sie wieder anschlussfähig an den ersten Arbeitsmarkt zu machen.

Die Männer können auch beim Verein arbeiten, um Gefängnisstrafen zu umgehen. Wer eine Geldstrafe nicht bezahlen kann, muss entweder hinter Gitter oder kann ersatzweise seine Schulden abarbeiten. Nach dem Motto „Schwitzen statt Sitzen“.

Beim Schränkeschleppen halten sich Schorsch* und Max* zurück. Die beiden sind die alte Garde beim Verein. Schorsch hat ein Aneurysma und Max Diabetes – beide haben einen Schwerbehindertenausweis. Trotzdem sind sie bei den Aufträgen immer wieder mit dabei. Mit Kippe im Mund, versteht sich. Sie sind sowas wie die Schatzsucher. Bei Entrümpelungen gehen sie zuerst durch die Wohnungen und entscheiden, was man noch verkaufen kann. Ein Depot auf dem Güterbahnhof in der Lokhalle ist ihr kleines Reich: Dort werden alle Funkstücke gesammelt, bevor sie auf die Freiburger Flohmärkte kommen.

Einmal hat Max 10.000 Euro in einer Wohnung gefunden. Der große Fund, auf den alle Entrümpler hoffen. Max hat das Geld aber zurückgegeben, für ihn und die anderen vom Verein eine Selbstverständlichkeit. Und wenn Schorsch nach der Arbeit nach Hause in seine Einzimmerwohnung geht, lebt er zwar auf freiem, aber sicher nicht auf großem Fuß. Dann klickt er sich durch das Netz, wie er sagt, um sich die Zeitungen zu sparen.

Peter hat probiert, Arbeit außerhalb des Vereins zu finden. Er bewarb sich bei der Müllabfuhr. Dort haben sie ihn nach den Lücken im Lebenslauf gefragt und als er offen über seine Zeit im Gefängnis geredet hat, ging es nur noch um einen Ein-Euro-Job. „Dann“ sagt er, „arbeite ich lieber weiter hier.“

Text und Foto: Hannes Currle

*Name der Redaktion bekannt

Infobox:

Das Arbeitsprojekt ist ein arbeitsmarktnahes Beschäftigungsprojekt für langzeitarbeitslose Menschen mit Hafterfahrung, besteht seit 30 Jahren und ist eines von drei Angeboten des Bezirksvereins für soziale Rechtspflege Freiburg. Ziel ist die Realisierung gesellschaftlicher Teilhabe durch den Arbeitskontext sowie die Heranführung der Klienten (aktuell 18) an den ersten Arbeitsmarkt. Das Projekt, für das derzeit drei Hauptamtliche und ein Praktikant arbeiten, bekommt einen Zuschuss der Stadt Freiburg, Betreuungspauschalen des Jobcenters Freiburg, Erlöse aus eigenen Dienstleistungen/Vermarktungen, ist aber dennoch größtenteils auf Spenden und Geldbußenzuweisungen an den Bezirksverein angewiesen. Im vergangenen Jahr kostete es rund 240.000 Euro. Seit der Gründung wurden mindestens 300 Klienten betreut.

Der Verein betreibt zudem die Anlaufstelle für Haftentlassene im Vollrath-Hermisson-Haus, bietet 20 Übergangs-Wohnplätze, Freizeitangebote und Anti-Gewalt-Coaching sowie EinsA, wo es Beratung, Einsatzstellenvermittlung und Begleitung gibt, wenn gerichtliche Arbeitsauflagen oder gemeinnützige Arbeit zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen abgeleistet wird. Ziel und Zweck des Vereins ist die Unterstützung von Gefangenen und Haftentlassenen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft sowie der Haftvermeidung. Allein in diesem Jahr schafften es vier Männer aus dem Arbeitsprojekt in den ersten Arbeitsmarkt.

Text: Lars Bargmann und Hannes Currle