Eklatante Engpässe: Wie Freiburger Apotheker gegen Medikamenten-Mangel kämpfen STADTGEPLAUDER | 14.07.2017

Für Patienten ist es ein Alptraum: Man muss behandelt werden, doch das passende Medikament fehlt. So geschehen in Jena, wo die Uniklinik einem 15-jährigen Krebspatienten nur ein Ersatzmittel geben konnte, weil das benötigte nicht vorrätig war. Er litt unter den heftigen Nebenwirkungen. Aus Freiburg ist so ein Fall – noch – nicht bekannt. Doch die Engpässe sind auch hier eklatant. Martin Hug, Leiter der Uniklinik-Apotheke, kämpft täglich dagegen. Ebenso die Leiterin der Karlsapotheke am Siegesdenkmal. Nur mit größter Anstrengung können sie den Ernstfall bisher vermeiden.

Alarmstufe Rot: Viele solche Schilder kleben an den Regalen der Freiburger Uniklinik-Apotheke. Täglich gibt‘s dort Lieferengpässe.

„Achtung Lieferengpass“ steht auf dem kleinen roten Zettel. Er klebt wie viele weitere in den Regalen der Uniklinik-Apotheke. Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten sind dort mittlerweile Tagesgeschäft: „Das Thema treibt uns um, ist lästig“, sagt Apotheken-Leiter Martin Hug im weißen Arbeitskittel. Die Nerven sind angespannt, schließlich steht das Wohl der Patienten auf dem Spiel. Ein dramatischer Fall wie in Jena soll mit allen Mitteln vermieden werden. Oder der aus einer anderen Klinik, wo ein Knochenkrebspatient nicht operiert werden konnte, wie Hug berichtet.

Der groß gewachsene Mann geht die Regalreihen entlang, greift zu einer Schachtel Antizol. Das Medikament wird bei Alkoholvergiftungen eingesetzt. Nur noch eine weitere Packung liegt im Fach. Was wenn gleich mehrere Patienten damit behandelt werden müssen? „Besser nicht, sonst wird’s eng“, sagt der 52-Jährige.

Knappe Vorräte kennt nicht nur er: Überall klagen Apotheker über leere Regale. In deutschen Kliniken fehlten im Februar 280 Wirkstoffe, 12.000 Patienten waren davon betroffen, zeigt eine Umfrage der AOK Baden-Württemberg. Auch lebensbedrohlich kann’s werden, verdeutlicht eine Befragung der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK): 39 Prozent der Krankenhausapotheken hatten Ende 2016 einen Engpass, der eine lebenswichtige Therapie unmöglich macht oder zumindest verzögert. Auch 15 Prozent der öffentlichen Apotheken berichten davon.

Die Lage spitzt sich zu: 112 Engpässe gab’s 2013 in der Freiburger Uniklinik-Apotheke, berichtet Hug. Fast doppelt so oft habe es 2016 geklemmt: 208 Medikamente konnten nicht oder nur teilweise geliefert werden. Der Ernstfall für Patienten sei dennoch ausgeblieben, berichtet Hug. „Sonst hätte ich versagt“, sagt er mit ruhiger Stimme.

Sein Team steht unter Dauerstrom: „Wir merken Engpässe immer erst bei der Bestellung“, sagt Hug. Die Hersteller sind erst seit März verpflichtet, Lieferprobleme zu listen. Auf einer öffentlichen Liste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) stehen kurz vor Redaktionsschluss 51 Präparate. Deutlich mehr als noch vier Wochen vorher, da waren nur rund 15 Präparate gelistet.

Im Dauereinsatz: Martin Hug versucht, die Engpässe in seiner Apotheke abzufangen. Bisher mit Erfolg, berichtet er.

Hug führt die Zunahme unter anderem auf das Arzneimittelversorgungsgesetz zurück, das im Frühjahr in Kraft getreten ist. Es verpflichtet die Produzenten, Lieferengpässe bei bestimmten Medikamenten zu melden. „Trotzdem zeigt die Liste immer noch nur einen Bruchteil“, betont Hug. Er wünscht sich einen vollständigen Überblick, um besser planen zu können.

Betroffen sind schließlich nicht Hustensaft oder Aspirin. Es fehlen Schmerzmittel, Antibiotika oder Krebsmedikamente. Auch Impfstoffe oder Herzkreislaufmittel werden regelmäßig knapp. „Es steht immer Spitz auf Knopf“, warnt Hug. Er steht deswegen in ständigem Austausch mit Ärzten und Pflegern, um zu schauen, wo reduziert werden kann oder ein Medikament verzichtbar ist. Die Gespräche sind nicht einfach, berichtet er.

„Die Hersteller müssen mehr in die Pflicht genommen“, fordert Martin Hug. Kern der Lieferengpässe ist für ihn die Globalisierung, die Produktion werde aus Kostengründen verstärkt in Drittländer outgesourct, Lager in Europa verkleinert. Eine Untersuchung der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft bestätigt das: 80 Prozent der Arzneiwirkstoffe kommen mittlerweile aus China und Indien.

Zudem konzentriert sich die Produktion eines Medikaments zunehmend auf einen einzigen Hersteller. Hat der Schwierigkeiten, wird’s knapp. Hug warnt beispielsweise vor der Abhängigkeit von lebenswichtigen Antibiotika: „Wenn die Chinesen nicht mehr liefern, sterben hier Leute.“ Die Politik müsse sich deswegen ernsthaft überlegen, ob sie nicht die Herstellung vor Ort subventionieren wolle. „Es sind immer nur günstige Medikamente von Engpässen betroffen“, sagt Hug. Teure Präparate, bei denen die Hersteller hohe Gewinnmargen hätten, seien dafür stets auf Lager.

Die AOK Baden-Württemberg prangert ein Lieferversagen der Unternehmen an. Doch die Pharmaindustrie möchte sich den Schwarzen Peter nicht zuschieben lassen. „Für Lieferprobleme gibt es nicht den einen Grund, sondern viele verschiedene“, teilt Sprecherin Susanne Straetmans vom Pharmariesen Pfizer mit. Zulieferverzögerungen, Produktionsunterbrechungen oder ein unerwarteter Bedarfsanstieg seien nur drei mögliche Gründe. „Selbstverständlich ist es uns ein essentielles Anliegen, dass unsere Medikamente voll lieferfähig sind“, betont Straetman. Das US-Unternehmen hat einen Standort mit 1000 Beschäftigten in Freiburg.

Vor Ort: Der US-Pharmariese Pfizer produziert auch in Freiburg. 1000 Menschen arbeiten dort.

Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BAH) verwies schon 2014 auf wirtschaftliche Schwierigkeiten: „Seit vielen Jahren ist der Preis- und Rabattdruck auf Arzneimittel in Deutschland immer weiter gesteigert worden“, heißt es in einer Stellungnahme. Gerade bei Generika (günstige Nachahmerpräparate) sei der Kostendruck europaweit mit am höchsten. Das führe dazu, dass Hersteller bestimmte Mittel oder Darreichungsformen nicht mehr anbieten könnten.

Auch Auflagen hätten stark zugenommen. Und die globale Nachfrage nach Arzneimitteln steige. „Dramatisch“, sogar, so Hug: 4,2 Millionen Packungen hat seine Apotheke vergangenes Jahr ausgegeben. Im Jahr 2001 waren es nur 2,5 Millionen. „Die Zahl der Patienten nimmt zu, die Liegezeiten werden kürzer“, sagt er.

Um Engpässe abzufangen, könnte er im Ausland einkaufen. In Spanien oder Portugal bekommt er manche Medikamente zum achtfachen Preis. „Das ist zu kurz gesprungen“, sagt Hug. Denn dann werde es dort knapp. Wer zahlt, gewinnt – davon hält er wenig: „Wenn es nur noch so geht, wird’s ziemlich düster.“

Um den Mangel aufzufangen, versucht er sorgfältiger zu planen oder alternative Präparate zu finden. Auch der Austausch mit den Kollegen vom St. Josefskrankenhaus wird gepflegt, dort ist die zweite Klinikapotheke der Stadt. „Wir helfen uns gegenseitig, geben auch mal Kontingente ab“, erzählt Hug. Er hat den Kollegen beispielsweise mal ein Antibiotikum abgetreten, das bei ihm auf Lager war: „Ist doch klar, dass man sich hilft, bevor jemand stirbt.“

Der Satz zeigt den Ernst der Lage. Eigentlich bräuchte er einen Mitarbeiter im Team, der sich ausschließlich um die Misslage kümmert: „Kontrollieren, nachbestellen, selbst herstellen“, fasst er zusammen. Doch den nur dafür zuständigen Kollegen gibt es nicht. Im Notfall müssten Patienten auch mal anders behandelt werden. Aktuell ist ein Krebsmedikament knapp. Pro Woche bestellt Hug davon 72 Packungen, er bekommt aber derzeit nur 25. Wann wieder mehr kommen, weiß er nicht. Es bleibt das Prinzip Hoffnung und die Suche nach Alternativen. „Wenn’s nichts gibt, gibt’s nichts“, sagt Hug.

Im Dauereinsatz: Nadja Marx versucht, die Engpässe in ihrer Apotheke abzufangen. Bisher mit Erfolg, berichtet sie.

Die Zahl der Engpässe sei hoch, doch meistens reiche es noch, sagt Hug. In die gleiche Kerbe schlägt Nadja Marx, Leiterin der Karls-Apotheke am Leopoldring. „Lieferengpässe treten in letzter Zeit verstärkt auf“, berichtet sie. Aktuell seien seltenere Antibiotika knapp: „Dann müssen Alternativen mit dem Arzt gesucht werden.“

„Das ist für alle eine Mordsarbeit“, klagt Marx. Gerade bei älteren Patienten sei viel Beratung nötig, wenn beispielsweise ein Blutdrucksenker plötzlich anders aussieht. Auch bei ihr konnte der Ernstfall bisher abgewendet werden: „Normalerweise sind ausreichend Alternativen vorhanden, aber Ausnahmen sind durchaus möglich.“ Besserung ist für sie nicht in Sicht: Sobald sich die Lage beim einen Medikament entspannt, ist das nächste betroffen.

Kritische Engpässe – Umfrage zeigt Ernst der Lage

Neun von zehn öffentlichen Apotheken hatten Ende 2016 mindestens einen Engpass, der gesundheitliche Folgen für Patienten hatte oder hätte haben können. Das zeigt eine Befragung der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK). Von den Klinikapotheken waren es 80 Prozent.

In zwei von zehn Apotheken gab es in dem Zeitraum mehr als 15 solcher kritischen Engpässe. In rund 40 Prozent der Krankenhausapotheken machte der Engpass eine
lebenswichtige Therapie unmöglich oder verzögerte sie.

In rund 15 Prozent der öffentlichen Apotheken mussten durch fehlende Lieferungen lebenswichtige Behandlungen verschoben oder ausgesetzt werden. 26 Prozent der öffentlichen Apotheken mussten durch einen Engpass eine Therapie abbrechen.

Text: Till Neumann / Fotos: © tln; Pfizer Deutschland GmbH