Es gibt ihn doch: Freiburger Forscher haben freien Willen wiederentdeckt STADTGEPLAUDER | 27.09.2016

Wer entscheidet darüber, wohin ich in Urlaub fahre, welches Eis ich wähle oder welchen Beruf ich ergreife? Bin das tatsächlich ich selbst oder hat mein Gehirn schon längst für mich gewählt? Bereits vor mehr als 30 Jahren schien die Neurowissenschaft das Rätsel gelöst zu haben: Der freie Wille – so zeigen zahlreiche Experimente – sei nur eine Illusion. Doch jetzt haben Freiburger Wissenschaftler erstmals eine alternative Erklärung gefunden und zeigen, was viele beruhigen dürfte: Der Mensch ist keine Marionette des eigenen Gehirns. Wie Freiburger Meditationsforscher – eher unbeabsichtigt – den freien Willen wiederentdeckt haben.

„Es wird viele Kritiker geben“: Meditationsforscher Stefan Schmidt.

„Es wird viele Kritiker geben“: Meditationsforscher Stefan Schmidt.

Kalifornien, 1983: Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und blickt auf eine schnell laufende Uhr, ein EEG zeichnet ihre Hirnaktivitäten auf. Ihre Aufgabe: Den Finger heben und angeben, zu welchem Zeitpunkt sie diese Entscheidung getroffen hat. Etwa 200 Millisekunden liegen dazwischen. So weit, so gut. Doch beim Blick aufs EEG offenbart sich Erstaunliches: Bereits eineinhalb Sekunden vor der Entscheidung ist ein Hirnsignal als ansteigende Kurve zu sehen – das Gehirn hat die Bewegung längst vorbereitet, unbemerkt von der Probandin.

Dieses Experiment des amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet schien eindeutig: Den freien Willen gibt es nicht. Bevor wir eine Entscheidung treffen, hat unser Unterbewusstsein schon für uns entschieden.

Stefan Schmidt, Psychologe am Freiburger Uniklinikum, und sein Forscherteam scheinen nun das weltweit wichtigste Experiment zum freien Willen widerlegt zu haben. Geplant war das nicht. Schmidt forscht eigentlich in einem ganz anderen Gebiet: der Achtsamkeits- und Meditationsforschung. Eine Kollegin habe ihn auf die Idee gebracht, das Libet-Experiment mit Meditierenden zu wiederholen.

Da diese besser in sich hineinhorchen können als Otto Normal, hat Schmidt auf präzisere Ergebnisse gehofft. Dass er stattdessen die Schlussfolgerungen aus dem Experiment über den Haufen werfen würde, ahnte er zu Beginn seiner Forschung vor vier Jahren nicht.

Doch seinem Team fiel auf, dass die im EEG sichtbare Kurve, die die vermeintliche Vorbereitung des Gehirns auf die Handlung zeigt, in Zusammenhang mit den Kurven steht, die die Gehirnspannung jederzeit und unabhängig von jeglicher Handlung durchläuft. Geht die Kurve nach oben – was alle paar Sekunden passiert –, ist der Mensch reaktionsbereiter und fällt dann am ehesten eine Entscheidung.

„Wenn ich unsere Interpretation zugrunde lege, dann heißt das nicht mehr, dass ich unfrei bin“, erklärt Schmidt, „sondern schlicht und einfach: Wenn man mir die Entscheidung gibt, zu einem frei gewählten Zeitpunkt den Finger zu heben, dann mache ich das zu manchen Zeitpunkten wahrscheinlicher als zu anderen.“

Die Freiburger haben herausgefunden, dass Meditierende diesen Zeitpunkt als kleinen Impuls spüren können. „Der Impuls heißt aber nicht, dass mich mein Gehirn zwingt, jetzt den Finger zu heben. Ich könnte stattdessen auch aufstehen oder etwas essen gehen – oder den Impuls ignorieren. Das ist meine eigene Entscheidung.“

Ein großes Echo habe es auf die vor einigen Wochen in einer Fachzeitschrift erschienene Arbeit noch nicht gegeben, doch Schmidt ist sich sicher: „Es wird viele Kritiker geben.“ Ihn selbst eingeschlossen: „Die Idee, den Freien Willen mit Hilfe von Gehirnaktivität zu klären, finde ich fragwürdig. Das Gehirn sind Nervenzellen, die verschaltet sind – das ist physikalisch. Freier Wille ist hingegen ein erlebtes inneres Phänomen – das ist erst mal nicht mit physikalischen Begriffen zu erklären.“

Der 48-Jährige weiß: Hier ist noch viel Forschung nötig. Auch er will dranbleiben: Haben antriebsarme Menschen andere Hintergrundschwankungen als impulsive? Welche anderen Verhaltensweisen hängen daran? Er betritt damit einmal mehr Neuland: Weltweit gibt es nur eine Handvoll Wissenschaftler, die dazu forschen.

Text: Tanja Bruckert / Foto: © privat