Gernot Erler über 18-Stunden-Tage, schlafende Abgeordnete und politische Erpressung Politik & Wirtschaft | 11.09.2017

Nach 30 Jahren ist Schluss: Für den Freiburger SPD-Politiker Gernot Erler haben die letzten Wochen im Bundestag begonnen. Der 73-Jährige hat beschlossen, nicht noch einmal im Wahlkreis Freiburg anzutreten. Achtmal wurde er hier gewählt. Er erlebte den Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin, war von 2005 bis 2009 Staatsminister im Auswärtigen Amt und hatte elf Jahre lang als Vize-Fraktionschef die Verantwortung für die Außen- und Sicherheitspolitik. chilli-Redakteurin Tanja Senn hat er erzählt, was die jungen Abgeordneten erwartet, weswegen Holzhammer-Politik gegenüber der Türkei nicht funktioniert und warum es in seinem Ruhestand nicht allzu viel Ruhe geben wird.

Hat die Kanzlerin schon mit schweren Augen im Plenum gesehen: Erler über seine Zeit in Berlin.

chilli: Herr Erler, bis Ende Oktober sind Sie noch Mitglied des Bundestags. Sie haben bereits angekündigt, dass Ihnen der Abschied schwerfallen wird – vor allem von Ihren Kollegen. Gibt es auch etwas, das Sie gar nicht vermissen werden?

Erler: Die völlige Fremdbestimmung meines Kalenders, die nun mal ein Kennzeichen eines Abgeordneten ist. Auch was die Wochenenden angeht. Dass ich ein bisschen mehr Zeitautonomie kriege, ist schon sehr attraktiv.

chilli: Ist das Leben als Abgeordneter denn so stressig? Auf Bildern ist das Plenum des Bundestags oft halb leer …

Erler: Es ist ja bekannt, dass die Abgeordneten nur an Debatten teilnehmen, die unmittelbar etwas mit ihrer Arbeit zu tun haben. Das hängt damit zusammen, dass wir einen sehr vollen Arbeitstag haben: Wir haben Besprechungen, empfangen Gäste, schreiben Texte … Wenn Kollegen nicht da sind, heißt das also nicht, dass sie wie Donald Trump zu Hause fernsehen. Ich habe auch oft aus dem Büro die Debatten verfolgt, während ich meine Schreibtischarbeit erledigt habe.

chilli: Man sieht auch immer wieder Bilder von Abgeordneten, denen im Saal die Augen zufallen.

Erler: Die Bilder von einnickenden Kollegen sind natürlich nicht gut, aber ich kann’s nachvollziehen. Ich hatte in Bonn und Berlin regelmäßig einen 18-Stunden-Tag. Da kommt der Schlaf oft zu kurz. Ich habe auch schon die Bundeskanzlerin mit schweren Augen auf ihrem ersten Platz gesehen.

chilli: Sich mit wenig Schlaf abzufinden, wäre also ein guter Tipp für Ihre jungen Kollegen, die nun zum ersten Mal in den Bundestag einziehen. Was raten Sie noch?

Erler: Mein wichtigster Tipp: sich mit einem Thema eng verbinden. Dass man sozusagen eine Marke hat, für die der eigene Namen steht. Natürlich verweise ich da auch auf mein Beispiel: Ich habe die Ost-, Russland- und Friedenspolitik zu meinem Markenzeichen gemacht. Dadurch habe ich die Chance bekommen, meine ganze Bundestagszeit auf diesem Gebiet zu arbeiten.

chilli: Was haben eigentlich Freiburger davon, wenn ihr Wahlkreiskandidat in den Bundestag einzieht? Kann man sich in Berlin tatsächlich gezielt für Freiburger Belange einsetzen?

Erler: Selbstverständlich, das ist ein ganz wichtiger Teil der Arbeit. Es gibt ja nicht nur die fachliche Orientierung, sondern auch die Erwartung aus dem Wahlkreis, dass man sich um dessen Belange kümmert. Straßenprojekte wie der Stadttunnel oder der zweite Teil der B31 West haben mich jahrzehntelang begleitet, ebenso wie der Ausbau der Rheintalbahn mit den ganzen Lärmschutzfragen. Ein weiteres Thema von größter Betroffenheit ist in Freiburg das AKW Fessenheim. In die regelmäßigen Sprechstunden meines Freiburger Bürgerbüros kommen aber auch Menschen mit persönlichen Problemen, die eine Wohnung suchen oder Probleme mit den Behörden haben. Da kann man nicht immer helfen, aber man muss immer bereit sein zu einem Gespräch.

chilli: Neben der Arbeit für den Wahlkreis setzen Sie sich für die Außen- und Friedenspolitik ein, das Verhältnis zu Osteuropa und Russland. Eine der größten Herausforderungen ist da momentan das Verhältnis zur Türkei. Andersdenkende werden inhaftiert, die Demokratie ausgehebelt. Reagiert die Regierung darauf zu zahm?

Erler: Das Problem ist, dass wir im Augenblick mit einer Art Erpressung konfrontiert sind. Deutsche Staatsbürger oder Doppelstaatler werden mit unhaltbaren Beschuldigungen ins Gefängnis gebracht. Gleichzeitig verlangt die Türkei, dass Deutschland türkische Asylsuchende ausliefert, weil die angeblich etwas mit dem Putsch zu tun haben. Hier kann man keine einfache Lösung finden. Bildlich gesprochen: Mit dem Holzhammer kann man da nichts erreichen. Stattdessen müssen wir mit einer breiten Front anderer Staaten Druck auf die türkische Regierung machen.

chilli: Das Verhältnis von den USA und Russland ist derzeit ebenfalls schwer belastet. Die Vokabel vom Kalten Krieg macht wieder die Runde. Wie bewerten Sie die Lage?

Erler: Im Augenblick haben wir eine Eskalation. Präsident Trump steht unter Druck, weil immer noch nicht geklärt ist, ob es in seiner Wahlkampagne Absprachen mit der russischen Seite gegeben hat. Deshalb muss er der Öffentlichkeit zeigen, dass er der russischen Politik nicht entgegenkommt. Das hat also mit internationaler Politik gar nichts zu tun, sondern nur mit amerikanischer Innenpolitik. Wir hatten bisher eine sehr enge Abstimmung mit Amerika, was die Russlandpolitik angeht. Jetzt haben die USA im Alleingang die Sanktionen verschärft. Das schwächt die westliche Position gegenüber Russland, weil wir Moskau nicht mehr vereint gegenüberstehen. Diese Strafmaßnahmen sind aus meiner Sicht daher völlig destruktiv.

chilli: Sie haben bereits angekündigt, diese Themen auch nach Ihrer Zeit als Abgeordneter nicht fallen zu lassen. Wie wird das konkret aussehen?

Erler: Da gibt es verschiedene Projekte, bei denen ich mitarbeiten kann, vor allem von politischen Stiftungen. Zudem werde ich meine ehrenamtlichen Funktionen weiterführen: als Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft in München, Vorsitzender der West-Ost-Gesellschaft in Südbaden oder des Deutsch-Bulgarischen Forums in Berlin. Wenn ich das alles zusammenzähle, muss ich aufpassen, dass ich nicht in die Situation eines Zur-Ruhe-Gesetzten komme, der weniger Zeit hat als vorher.

Text: Tanja Senn / Foto: © tln