Heimliche Heldin: Gertrud Himmelsbach hat 1944 das Münster repariert STADTGEPLAUDER | 06.11.2017

Am 27. November 1944 wurde Freiburg von der britischen Royal Airforce bombardiert. Vor allem die Altstadt wurde zerstört. Wie durch ein Wunder stand das Münster noch. Aber als der Schnee fiel, drohte das Gewölbe unter all dem Schutt einzustürzen. Um das zu verhindern, haben rund 50 Freiburger Jugendliche die Reparatur in die Hand genommen. Die damals 14 Jahre alte Gertrud Himmelsbach war eine von ihnen. Im Interview mit chilli-Autorin Annkathrin Pohl erzählt die 87-Jährige vom Dachdecken, Versteckenspielen und dem einzigen Unfall während der Arbeit.

Die mittlerweile 87-jährige Gertrud Himmelsbach ist mit 14 Jahren auf dem Münsterdach geklettert.

chilli: Frau Himmelsbach, Sie sind während des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen. Wie ist Ihnen Ihre Jugend in Erinnerung geblieben?
Gertrud Himmelsbach: Ich hatte eine gute Jugend. Als ich neun Jahre alt war, ist der Krieg ausgebrochen. Als wir mit der Aktion beim Münster angefangen haben, war ich vierzehn. Im September 44 war das letzte Mal Schule und Ende September hat die Schule dann aufgehört, weil dauernd Fliegeralarm war.

chilli: Da hatte man ja auch andere Sorgen als die Hausaufgaben, oder?

Himmelsbach: Genau. Wir hatten in den letzten zwei Jahren sowieso nur noch die Hauptfächer gehabt, um die Schulzeit für die Kinder zu verkürzen. Während der Schulzeit haben wir uns gefreut, wenn Fliegeralarm war, weil da vielleicht eine Klassenarbeit ausgefallen ist.

chilli: Das was bei uns Feueralarm ist, war bei Ihnen also Fliegeralarm?

Himmelsbach: Ja, nur war der bei uns etwas ernsthafter. Aber als Kind hat man das nicht so wahrgenommen. Freiburg ist am 10. Mai 1940 zum ersten Mal bebombt worden. Das war ein Schock. Ein paar Freiburger haben das deutsche Kennzeichen auf den Fliegern gesehen.* Wer das aber gesagt hat, ist ins Konzentrationslager gekommen. Das ist erst nach dem Krieg heraus gekommen. Danach war noch oft Fliegeralarm, aber bis zum 27. November 1944 sind keine Bomben mehr gefallen.

chilli: An dem Tag wurde Freiburg bombardiert. Wo waren Sie zu dem Zeitpunkt?

Himmelsbach: Ich war zuhause und habe Brötchenteig gerührt für Weihnachten. Als der Fliegeralarm losging, habe ich nur die Schüssel mit Teig gerettet und bin damit in den Keller. Der Teig war wichtig, denn darin waren viele zusammengesparte Zutaten.

chilli: Nach dem Angriff war das Münster im Gegensatz zu der restlichen Altstadt relativ unbeschädigt. Was war denn zu tun?

Himmelsbach: Das Münster war nicht durch die Bomben beschädigt worden, sondern durch die Druckwelle. Die Gewölbe waren am durchbrechen, weil der Schutt der Ziegel zusammen mit dem Schnee so schwer war. Den Schutt haben wir mit Eimern raus geschafft. Mit einem Seilzug wurde er in einer Kiste nach unten transportiert. Dann hat man neue Ziegel reingesetzt. Zu zweit mussten wir in einem Rad laufen, um die Kiste wieder nach oben zu kriegen. Das haben meistens die Mädchen gemacht. Wir sind schier blöd geworden. Als der Schutt draußen war, sind wir aufs Münster gegangen und haben das Mittelschiff neu gedeckt. Dann war noch der Heimweg vom Münster nach Herden. Unterwegs war Fliegeralarm. Es war nicht so, dass wir einfach nach Hause spazieren konnten. Aber wir haben die Arbeit durchgehalten. Das war gar keine Frage.

Das einzige Bilder, das von den Jugendlichen auf dem Dach existiert.

chilli: Klingt ziemlich anstrengend. Und das haben Sie den ganzen Tag gemacht?

Himmelsbach: Wir haben nicht nur gearbeitet, sondern auch Verstecken gespielt. Ich kenne alle Winkel auf dem Münster, wo man so nicht hinkommt. Es gab auch ein dickes Seil mit Knoten, auf dem man sitzen konnte. Hinten im Münster war eine wertvolle Muttergottes in Backstein eingemauert. Da konnte man sich gut abstoßen und durch den Mittelgang hin und her schwingen. Das war wunderbar. Aber das durfte niemand sehen. Der Dompfarrer hat mal etwas mitbekommen. Jedem Buben hat er eine Ohrfeige gegeben. Aber nicht den Mädchen! Danach musste immer jemand Schmiere stehen.

chilli: Haben nur Sie Kinder auf dem Dach gearbeitet?

Himmelsbach: Wir haben uns nicht als Kinder angesehen, sondern als Jugendliche. Dafür haben alle zu viel erlebt. Französische Gefangene waren noch am Münster beschäftigt. Wir durften mit denen aber nicht zusammen kommen. In unserer Naivität haben wir uns blau-weiß-rote Stecknadeln an unser Revers gesteckt, um ihnen zu signalisieren, dass wir ihnen freundlich gesinnt sind.

chilli: Gab es Besonderheiten für Mädchen auf dem Bau?

Himmelsbach: Ja, zum Beispiel waren damals Hosen für Frauen keine Mode, deswegen hatten wir alle keine. Als wir in unseren Röcken die Treppen im Mittelschiff hochgelaufen sind, hat der Dompfarrer uns gleich verboten, damit zu arbeiten. Weil es unsittlich war. Ich habe die Skihose von meinem Bruder gekriegt und sie mir zurecht genäht. So haben es die anderen auch gemacht. Wir Mädchen sind in den ganzen Unterlagen vom Ordinariat nicht erwähnt, obwohl über die Hälfte der Dachdecker Mädchen waren.

chilli: Sie hatten nie Angst, als Sie auf dem Dach waren?

Himmelsbach: Doch zweimal. Einmal, als ich oben auf dem Dach saß. Ich sah zwei Jagdbomber direkt auf mich zufliegen. Ich habe gedacht: „So und jetzt schießen sie mich ab.“ Sie sind aber nur über mich hinweg geflogen. Das andere Mal haben die Buben Schneebälle mit Ziegeln drin in Richtung der Parteimitglieder, den sogenannten „Goldfasanen“, geworfen. Die Schneebälle sind vor ihren Füßen auf den Boden geplatzt. Da habe ich Angst gehabt, dass sie raufkommen.

chilli: Als Sie auf dem Münster gearbeitet haben, war Winter. Ist nie einer auf dem Schnee abgerutscht?

Himmelsbach: Es ist nie etwas passiert. Nur am ersten Tag hat ein Domkapitular uns gezeigt, wie man mit einer Schaufel umgeht und den Schutt von oben runter schmeißt. Unten ist gerade der Dombaumeister gelaufen und hat die Schippe Steine ins Kreuz gekriegt. Aber das waren nicht wir!

chilli: Die Münsterbaujugend hat sich später wieder getroffen. Das erste Mal zum 40. Jahrestag der Bombardierung auf Freiburg. War das seltsam, die Leute von damals wieder zu sehen?

Himmelsbach: Nein, überhaupt nicht. Das war, als hätte man sich erst vor 14 Tagen gesehen. Man hat damals so viel miteinander gemacht. Eine Verbindung, die bleibt.

chilli: Gedanken kommen Ihnen, wenn Sie heute das Münster sehen?

Himmelsbach: Ich freue mich immer. Die Baugerüste stören mich allerdings heute noch. Überall sind Sicherheitsvorkehrungen. Lieber Gott, wenn das alles schon damals so gewesen wäre – da hätten wir ja nicht schaffen können.

*Am 10. Mai 1940 wurde Freiburg von der deutschen Luftwaffe angegriffen. Die Bomben galten eigentlich Dijon.

Text: Annkathrin Pohl / Fotos: © Annkathrin Pohl; Münsterblatt 2014 Nr. 24