Ist 30 das neue 50? Die umstrittene Ausweitung der Tempolimits in Freiburg STADTGEPLAUDER | 19.06.2016

Die neue Entdeckung der Langsamkeit: Stan Nadolnys Protagonist John Franklin steht in Südbaden derzeit Pate für viele Kommunen und Städte, die für mehr Tempolimits kämpfen. In Freiburg hatte der Gemeinderat die Verwaltung bereits im März 2015 aufgefordert, die Möglichkeiten einer Ausweitung der Tempo-30-Zone bis Ende 2016 prüfen zu lassen – und dafür 50.000 Euro in den Haushalt eingestellt. Das chilli hat mit dem Gutachter Jochen Richard gesprochen, dessen Büro den Lärmaktionsplan erarbeitet hat und nun auch für das stadtweite Geschwindigkeitskonzept angefragt werden soll: Aber Richard hat noch nicht einmal eine Anfrage erhalten. Frank Uekermann, Chef des Garten- und Tiefbauamts (GuT), muss einräumen: „Wir sind in den letzten Zügen der Leistungsbeschreibung.“ Ob irgendein Gutachter das bis Ende des Jahres noch abarbeiten kann, ist fraglich. Die Fraktionen sind not amused. Lars Bargmann und Tanja Bruckert wollten nicht warten, bis die Stadt das Gaspedal findet und haben schon mal getestet, wie viel Zeit die Autofahrer eine Umstellung kosten würde. Und von der EU drohen derweil wegen ständiger Grenzwertüberschreitungen Millionenklagen.
 

 
Nach nicht einmal fünf Minuten liegen die Nerven blank. Die Hände des Fahrers trommeln immer nervöser aufs Leder. Jetzt überholt der alte Golf unseren Testwagen, der Fahrer schaut kopfschüttelnd rüber. Links ziehen die Kräne des Baugebiets Gutleutmatten vorbei, rechts blüht es in den Kleingärten, die Straße vor uns ist frei. Hinter uns reiht sich ein Auto ans andere, unser Hintermann kommuniziert per Lichthupe, noch weiter hinten schert einer aus, um zu schauen, warum es so langsam vorangeht. Ob sich das Gedrängel lohnt?
 
Von der Kreuzung bei der Badischen Zeitung die komplette Eschholzstraße entlang, am Hauptfriedhof vorbei bis zur Zähringer Straße nahe des Kauflands braucht es an diesem Mittag mit konstant 30 Sachen 12 Minuten und 43 Sekunden – mit 50 legen wir die Strecke in 8 Minuten und 44 Sekunden zurück. Auf dem Rückweg ist mehr los, die Differenz zwischen 30 und 50 schrumpft auf 17 Sekunden (siehe Grafik) zusammen.
 
Ein kleiner Zeitverlust für den Autofahrer, ein großer Lärmverlust für die Anwohner: Um eine Hauptverkehrsachse auf Tempo 30 zu drosseln – nachts gilt das auf der Tal-, Kronen-, Eschholz- und Schwarzwaldstraße schon seit Jahren –, muss das GuT erst mal nachweisen, dass der Lärmpegel um mindestens drei Dezibel sinkt. Was sich nach wenig anhört – normaler Verkehrslärm schafft es auf rund 75 Dezibel –, wird als Halbierung des Lärms wahrgenommen. Auf der B 31 habe man durch das nächtliche 30 diese Vorgabe sogar übertroffen, sagt Uekermann.
 
Ziel des noch zu beauftragenden, stadtweiten Geschwindigkeitskonzepts ist „eine möglichst flächendeckende, nächtliche Tempo-30-Regelung (22 bis 6 Uhr) – mit begründeten Ausnahmen, wo ausreichend Abstand zur Wohnbebauung gegeben ist“.
 
50.000 Euro stehen für das Konzept zur Verfügung, das Ende 2016 fertig sein soll und für das Uekermann mindestens drei Büros anfragen möchte. Jochen Richard, Inhaber des Aachener Planungsbüros Richter-Richard, das den Lärmaktionsplan erstellt hat, zeigt sich angesichts dieser Zeitplanung skeptisch: „Dass man jetzt noch bis Ende des Jahres ein Gutachten erstellen kann, halte ich für eher unwahrscheinlich. Vielleicht definiert man eine erste Stufe, das wäre noch machbar.“
 
Die Fraktionen im Rathaus reagieren auf die chilli-Recherchen überrascht bis ungläubig. Zur Frage nach der Ausweitung der Tempo-30-Zone gibt es im Gemeinderat ein Kaleidoskop von Meinungen (siehe nächste Seite).
 
Das Konzept ist neben einem Lenkungskonzept für den LKW-Verkehr einer der Schwerpunkte des Lärmaktionsplans, der die Dezibel-Hot-Spots leiser drehen soll. Dafür will man so viel Zone 30 wie möglich. Allen 50er-Zonen würde es aber wohl nicht an den Kragen gehen: „Wir brauchen ein übergeordnetes Netz an Straßen, auf denen man schneller fahren kann“, findet Uekermann, „damit die Autofahrer nicht auf die kürzeste Strecke ausweichen und mitten durch Wohngebiete fahren.“ So sei die B 31 nur deswegen nachts gedrosselt, weil Berechnungen gezeigt hatten, dass der Verkehr trotzdem nicht auf die Kartäuserstraße ausweicht. Da aber hernach einfach die Talstraße als Anti-Schleichweg genutzt wurde, wurde hier zeitverzögert nachgedrosselt.
 
„Wir halten ein flächendeckendes Tempo 30 nicht für sinnvoll“, so Clemens Bieniger, Vorsitzender des ADAC Südbaden. Die damit einhergehende Rechts-vor-links-Regelung führe zu einem Stop and Go, das sowohl in Sachen Lärm als auch beim Emissionsausstoß kontraproduktiv wäre. Falls der Tritt auf die Bremse genehmigt werde, würde man das aber „mit großen Bauchschmerzen“ hinnehmen. Anders als etwa in Zürich: Hier will die Verwaltung 80 Strecken durch neue 30er-Zonen beruhigen – erst fünf konnte sie durchsetzen. Gegen die anderen sind insbesondere Autoverbände rechtlich vorgegangen.
 
Dabei geht es nicht nur um den Lärm, sondern auch um die Luft. Besonders kritisch: Der Stickstoffdioxid-Grenzwert (NO2), der an der Messstation Ecke Schwarzwald- und Sternwaldstraße regelmäßig überschritten wird. Die EU gibt seit 2010 maximal 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft vor – in Freiburg wurden 2015 durchschnittlich 58 gemessen. Gesundheitlich ist das bedenklich: Greenpeace zitiert eine Studie, nach der jährlich mehr als 47.000 Menschen allein in Deutschland durch zu hohe Schadstoffkonzentration sterben; 40 Prozent davon gingen auf das Konto des Verkehrs.
 

 
Die hohe Belastung kann auch für den Steuerzahler teuer werden: Jeder Tag, an dem die Grenzwerte überschritten werden, könnte nach Einschätzungen aus dem Landesverkehrsministerium irgendwann sechsstellige Strafen nach sich ziehen. Seit 2010, hat Grünen-Stadtrat Helmut Thoma mal hochgerechnet, wären das bis heute schon 230 Millionen Euro. Zwar ist noch Zeit zu handeln, einfache Lösungen wird es aber nicht geben: So würde nach einer Studie die NO2-Konzentration an der Sternwaldstraße auch dann noch über dem Grenzwert liegen, wenn die komplette B 31 in die Umweltzone aufgenommen und nur noch mit Plakette befahren werden dürfte – was in der Region wegen des Ausweichverkehrs heftig umstritten ist.
 
Das RP will auch mit der Fortschreibung des Luftreinhalteplans gegen die drohende Millionenklage angehen. Aktuell prüfen interdisziplinäre Arbeitsgruppen, mit welchen Maßnahmen das Problem gelöst werden könnte. Auch da ist flächendeckendes Tempo 30 im Gespräch.
 
Ob Geschwindigkeitsreduzierungen bei der Luftqualität überhaupt etwas bringen, ist stark umstritten. Nach einer Studie der Landesanstalt für Umwelt führt Tempo 30 oder 40 nicht zwangsläufig zu besserer Luft – vielmehr hänge es davon ab, wie flüssig der Verkehr läuft. Bei Testfahrten in Stuttgart habe die niedrigere Geschwindigkeit auf ebenen Strecken gar nichts gebracht, nur am Hang oder bei stockendem Verkehr war der NO2-Ausstoß geringer.
 
Thomas Koch, Chef des Karlsruher Instituts für Technologie, ist sicher, dass in der Regel Kraftstoffverbrauch und Emissionen sogar ansteigen: „Autos sind nicht für Tempo 30 gemacht, sie kommen da in einen Betriebsbereich, der immer unwirtschaftlicher wird.“ Zudem würden die Menschen in der 30er-Zone in einen niedrigeren Gang schalten und somit erst recht mögliche Effekte zunichtemachen.
 
Die Stickoxid-Diskussionen findet er übertrieben: „Die neueste Fahrzeuggeneration ist vollkommen sauber, das Thema ist durch und wird sich in den nächsten Monaten und Jahren von allein wieder beruhigen.“ Wenn gehandelt werde, dann sicher nicht nur beim Auto: In Stuttgart würden 25 der erlaubten 40 Mikrogramm nicht durch Motoren, sondern durch Kaminöfen, Industrie oder Baustellen entstehen. Noch extremer sei es beim Feinstaub, für den nur zu sechs Prozent der Motor verantwortlich sei. Noch nicht einmal von der Polizei bekommen die Zone-30-Freunde Rückendeckung: Von 6000 Unfällen in Freiburg habe es 2015 nur 124 durch zu hohe Geschwindig gegeben – ein historischer Tiefstand. Dreimal häufiger seien Abbiege-, Rangier- und Vorfahrtunfälle.
 
Und die könnten sogar zunehmen: So gilt in 30er-Zonen grundsätzlich rechts vor links. Auf Straßen aber, auf denen der Autofahrer das Gefühl hat, er sei auf einer wichtigeren, darf kein rechts vor links eingeführt werden. „Für den Autofahrer ist es bei aufeinander folgenden Kreuzungen mit Vorfahrtschildern sehr schwer zu erkennen, dass er sich in einer 30er-Zone befindet“, sagt Polizeisprecherin Laura Riske. „Es besteht die Gefahr, dass Geschwindigkeitsunfälle zwar weiter zurückgehen, dafür aber andere Unfallursachen steigen.“
 
Auch unsere zweite Testfahrt von der Kronenbrücke bis an den Ortsausgang nach Ebnet und zurück geht unfallfrei aus. Hinter uns wird gehupt, die Lichter blenden auf, und die eine oder andere Handbewegung macht deutlich, was die Autofahrer vom schleichenden Redaktions-Duo halten. Auf Höhe des PTSV Jahn überholt ein schwarzer Twingo mit anhaltendem Hupen – und fährt vor lauter Ungeduld fast in den Gegenverkehr. Auch bei uns neigt sich die Geduld dem Ende zu: Statt 19 Minuten und 45 Sekunden brauchen wir mit Tempo 30 für beide Strecken satte 29 Minuten und 13 Sekunden. John Franklin wär’s egal.
 
Tempo 30: Das sagen die Fraktionen
 
Die Grünen in Freiburg wie im Bund fordern in allen deutschen Städten generell Tempo 30 und nur in Ausnahmefällen Tempo 50. „Wir haben in Freiburg einen Haufen unterschiedlicher Geschwindigkeiten und tausend Schilder, die das regeln müssen. Das ist auch schwierig für die Autofahrer“, sagt Stadtrat Eckart Friebis. Freie-Wähler-Fraktionschef Johannes Gröger ist klar gegen ein flächendeckendes 30. „Der Verkehr muss fließen, wir brauchen hier kein Öko-Diktat, sondern Sinn und Verstand.“ SPD-Stadtrat Stefan Schillinger ist gegen „radikale Pauschallösungen“, Straßen sollten Verkehr bündeln, die nächtlichen Restriktionen hätten sich bewährt. CDU-Stadtrat Martin Kotterer will erst einmal das Gutachten abwarten, bevor sich die Fraktion eine Meinung bildet: „Die gesellschaftliche Tendenz geht zu mehr Tempo 30, aber der Verkehr muss fließen.“ CDU, SPD und Freie Wähler seien nicht gerade die „Speerspitze des verkehrlichen Fortschritts“, findet Friebis.
 
Wolf-Dieter Winkler, Stadtrat von Freiburg Lebenswert/Für Freiburg, hält Tempo 30 in Wohngebieten für richtig, ein generelles Limit auch nur nachts aber für problematisch. Michael Moos, Fraktionschef der Unabhängigen Listen: „Die Mehrheit bei uns ist für mehr Tempo 30, aber nicht überall. Es sei heute schon schwer, die „ständig wechselnden Limits einzuhalten“. Coinneach McCabe von der JPG kann mit mehr Tempo 30 gut leben, kritisiert nebenbei den Stadttunnel, weil Fernstraßen nicht durch Städte führen dürften. Für den FDP-Kreisvorsitzenden Sascha Fiek würde ein generelles 30 den Verkehr in Wohngebiete verlagern, was keiner wolle. Auch nachts sollte man „nicht mit der Gießkanne Tempo 30“ verteilen, sondern den Einzelfall prüfen. Genau das macht das zuständige Regierungspräsidium. „Die Welt ist nicht schwarz und weiß, sondern grau“, sagt RP-Sprecher Markus Adler, „auch wenn es keiner hören will, das sind am Ende des Tages alles Einzelfallentscheidungen.“
 
Text: Tanja Bruckert & Lars Bargmann / Foto: © tbr / Montage und Grafik: chilli