Kreuzwege eines Lebens: Freiburger Autorin legt analytische Biografie von Gudrun Ensslin vor STADTGEPLAUDER | 13.01.2017

Eine gewisse Verwunderung, ein befremdliches Erstaunen gaben der Freiburger Autorin Ingeborg Gleichauf den Impuls für ihr neues Buch: Im Vorwort zu „Poesie und Gewalt“ schreibt sie, dass es sie schon lange störte, dass Gudrun Ensslin, Gründungs- und Leitungsmitglied der „Rote Armee Fraktion“ und vor knapp 50 Jahren eine Zeitlang eine der beiden meistgesuchten Frauen Deutschlands, in sämtlichen Veröffentlichungen über die RAF lediglich als Pastorentochter aus der schwäbischen Provinz, als zwar streng erzogenes aber wohlbehütetes und bis zu ihrer Radikalisierung „braves Mädchen“ beschrieben wird.

In derlei „Deutungen“, für die es nicht einmal belegbare Quellen gebe, komme der Mensch, die Frau Gudrun Ensslin in all ihrer Individualität „überhaupt nicht zum Vorschein“, fand Gleichauf. Und machte sich auf die Suche nach Spuren, nach Weggefährten der Frau, die die letzten fünf Jahre ihres 37 Jahre währenden Lebens im Gefängnis verbrachte – wegen der Beteiligung an mörderischen terroristischen Anschlägen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die erfahrene Verfasserin von Biografien – darunter Hannah Arendt oder Simone de Beauvoir – wurde fündig, kam der bis dahin „nicht wirklich wahrgenommenen und reichlich oberflächlich beurteilten“ Persönlichkeit Gudrun Ensslins sehr nahe. Eindrücklich (und mit vollständigen Quellenangaben) stellt sie die Kindheit und Jugendzeit der allgemein beliebten und offenbar sehr liebenswerten, literarisch extrem begabten und ausgezeichneten Schülerin und späteren Studentin dar; zeigt auf, welche Qualitäten in ihr steckten, was sie aus ihrem Leben „bei all ihren Talenten hätte machen können“. Die Autorin versucht aber auch, die Wege nachzuvollziehen, die die später so kompromisslose Frau an den verschiedenen Kreuzwegen ihres Lebens einschlägt. Sie versucht, nachzuempfinden, welche Beweggründe Ensslin zu bestimmten Entscheidungen geführt haben, welche Ereignisse sie dazu brachten, „Bekanntschaft zu schließen mit der politischen Aktion“ – und konsequent die einmal eingeschlagene Richtung zu verfolgen, aus der es dann keine Rückkehr mehr gab.

Ingeborg Gleichauf betrachtet Gudrun Ensslin dabei nicht von ihrem Ende als „gebrochen Frau“ , sondern vorurteilsfrei von ihren hoffnungsvollen Anfängen her. Sie verzichtet auf Deutungen, zieht es vor, einzugestehen, dass es auf manche Fragestellungen keine endgültige Antwort geben kann. Damit ist ihr ein überzeugendes, einfühlsames und sehr authentisches Porträt dieser zusehends widersprüchlichen Frau gelungen. Ein Buch, das zudem auch Licht in ein dunkles Stück der jüngsten deutschen Zeitgeschichte bringt.

Am Dienstag, 17. Januar, liest Ingeborg Gleichauf in der Reihe „Freiburger Andruck“ aus „Poesie und Gewalt“ um 20 Uhr im Winterer-Foyer des Stadttheaters Freiburg.

Text: Erika Weisser / Foto: © Eberhard Gleichauf

Cover_Ensslin

Ingeborg Gleichauf
Poesie und Gewalt
Das Leben der Gudrun Ensslin
Klett-Cotta-Verlag 2017
350 Seiten, gebunden
22 Euro
Ab 14. Januar 2017 im Handel