Tatort Dreisam: Das Protokoll eines Mordes, der Freiburg erschüttert STADTGEPLAUDER | 16.12.2016

Der 16. Oktober 2016 hat Freiburg tief getroffen. In der Nacht auf diesen Sonntag wurde die Medizinstudentin Maria L. an der Dreisam vergewaltigt und ermordet. Wochenlang tappen die Ermittler im Dunkeln, bis der mutmaßliche Mörder von Maria L. dank einer Glanzleistung der Polizei gefasst wird. Der Fall erregt weltweites Aufsehen, weil der Täter, Hussein K., ein Zuwanderer ist.

Am Fundort an der Dreisam wurden viele  Kerzen und Blumen niedergelegt.

Am Fundort an der Dreisam wurden viele Kerzen und Blumen niedergelegt.

Sonntag, 16. Oktober, 9.46 Uhr: Die Redaktion erreicht eine SMS, wonach Polizisten an der Dreisam den Bereich zwischen Ottiliensteg und Ebneter Brücke abgesperrt haben. 12.18 Uhr: Die Polizei meldet, dass sie nach Anruf einer Joggerin eine leblose Frau im Wasser am südlichen Dreisamufer gefunden hat. Um 13.01 Uhr folgt der erste Zeugenaufruf. Um 16.43 Uhr hat die Kripo die Personalien ermittelt. Es wird ein Tötungsdelikt vermutet und die 40-köpfige Sonderkommission Dreisam (Soko) einberufen.

Montag, 17. Oktober, 10.24 Uhr: Die Polizei meldet, dass die Tote eine 19-jährige Studentin aus Freiburg ist, erste Kommilitonen vernommen wurden und der Leichnam im Laufe des Tages rechtsmedizinisch untersucht wird. Um 17.57 Uhr heißt es in einer gemeinsamen Presseerklärung von Staatsanwaltschaft und Polizeipräsidium, dass die 19-Jährige eine Party im Institutsviertel um 2.40 Uhr verlassen hatte, an der Dreisam ertrunken ist und Opfer eines Gewaltverbrechens wurde. Mehr wird aus ermittlungstaktischen Gründen nicht berichtet.

Dienstag, 18. Oktober, 14.57 Uhr: Die Ermittler teilen mit, dass die Studentin vergewaltigt wurde. In dieser Pressemitteilung taucht erstmals das Dornengebüsch auf, das zum mutmaßlichen Täter führen wird.

Mittwoch, 19. Oktober, 11.41 Uhr: Die ganze Nacht über hatten Ermittler der Sonderkommission im Bereich des Tatorts Passanten und Fahrradfahrer kontrolliert und Flyer verteilt. Es gibt 60 Hinweise aus der Bevölkerung. Dennoch tappen sie im Dunkeln.

Freitag, 21. Oktober, 10.59 Uhr: Es sind 100 Hinweise, 200 Personen sind vernommen worden. Ohne durchschlagenden Erfolg.

Mittwoch, 26. Oktober, 21.24 Uhr: Das Landeskriminalamt (LKA) hat an der Toten männliche DNA-Spuren festgestellt, die mit der bundesweiten DNA-Analyse-Datei abgeglichen werden.

Freitag, 4. November, 9.40 Uhr: Der Abgleich mit der Datei verlief negativ. Zwischenzeitlich werten die Ermittler 740 Spuren aus. 450 Personen wurden vernommen. 104 freiwillige DNA-Proben sind untersucht.

Sonntag, 6. November, 15 Uhr: Eine 27-jährige Frau geht in Endingen joggen und kehrt nicht wieder zurück. Vier Tage später wird sie tot aufgefunden. Die gerichtsmedizinische Untersuchung stellt fest, was viele schon befürchtet haben: Auch diese Frau wurde wie Maria L. sexuell missbraucht und getötet.

Dienstag, 8. November, 10.13 Uhr: Die Freiburger Staatsanwaltschaft (STA) lobt 6000 Euro für Hinweise aus, die zur Ergreifung des Täters führen.

Montag, 14. November, 17.22 Uhr: Es sind 940 Personen vernommen worden, es gibt mehr als 1000 Spuren und 190 freiwillige, männliche DNA-Proben – ohne Treffer. Die Polizei schaltet online ein anonymes Hinweissystem und verteilt nun auch Plakate in englischer, französischer und arabischer Sprache.

Dienstag, 15. November: In Freiburg ist eine Diskussion darüber entbrannt, warum die Polizei Informationen wie Haar- und Hautfarbe oder die Herkunft des Täters nicht ermitteln darf. In der Schweiz ist man da schon weiter: Die Rechtskommission des Ständerats empfiehlt heute einstimmig dahingehende Änderungen im DNA-Gesetz.

Freitag, 18. November, 14.06 Uhr: Bei einem mantrailer-Einsatz, wobei Spürhunde auf die Fährte von Geruchsspuren vom Tatort angesetzt wurden, führt die Spur in einen Hörsaal der Biochemie im Institutsviertel. Fast 100 im Hörsaal befindliche Studenten geben freiwillig eine DNA-Probe ab. Über das anonyme Hinweisgebersystem sind 40 neue Hinweise eingegangen.

Samstag, 19. November, 24 Uhr: Das Sicherheitsgefühl in Freiburg hat drastisch abgenommen. Das Heimwegtelefon, das Menschen, die nachts alleine nach Hause laufen, begleitet, läuft auf Hochtouren. Einer der Freiwilligen, die einen telefonisch nach Hause begleiten, ist Lars Burmeister. Der 29-jährige Freiburger wurde selbst mal überfallen. Als Pizzabote in Kiel. Mit Pistole und Messer. Jetzt will er anderen helfen, ruhig zu bleiben. Diese Geschichte lesen Sie unter bit.ly/heimwegtelefon_chilli.

Montag, 21. November, 13.30 Uhr: Eine 70-jährige Freiburgerin steht in einem Waffengeschäft und kauft sich zum ersten Mal in ihrem Leben ein Pfefferspray. Sie hat Glück, überhaupt noch eines zu bekommen. Der Freiburger Angstforscher Jörg Angenendt erklärt, dass die Ängste voraussichtlich mit dem öffentlichen Interesse an den Fällen wieder abnehmen werden. „Wenn es dann aber zu einem erneuten Fall kommt, können die gerade abgebauten Ängste schnell wieder verstärkt werden, auch wenn das Verbrechen in einer ganz anderen Stadt passiert.“ Selbstverteidigungskurse könnten helfen, mit der Angst umzugehen.

Beklemmendes Halblicht: Die Stadt will dunkle Ecken nun besser beleuchten.

Beklemmendes Halblicht: Die Stadt will dunkle Ecken nun besser beleuchten.

Dienstag, 22. November, 20 Uhr: 20 junge Frauen und zwei Männer stehen sich in der Dieter-Wetterauer-Halle in der Wiehre gegenüber, die Hände abwehrend nach vorne gestreckt. „Halt!“ tönt es durch die Turnhalle. Es ist der erste Schritt aller Übungen, die Kampfsport-Trainer Toni Calma zeigt. Seit einem Jahr bietet er Crash- und Wochenendkurse sowie Kurse speziell für Frauen oder Studenten an. Seit ein paar Wochen sind die Teilnehmerzahlen explodiert. Fünfmal mehr Frauen seien in seine – vormals männerdominierten – Kampfkurse gestürmt. Und das, obwohl Innenminister Thomas Strobl erst vor kurzem in der Bietigheimer Zeitung davon abgeraten hat „sich in Selbstverteidigung zu üben“. Für die Innere Sicherheit sei vielmehr die Polizei zuständig. „Natürlich hat Selbstverteidigung seine Grenzen“, sagt Calma. „Wenn mehrere Kriminelle gezielt vorgehen, sind die Chancen nicht gut. Aber wichtig ist, überhaupt etwas zu tun und nicht von vornherein aufzugeben.“ Mit dem Handballen ins Gesicht, danach mit dem Knie in den Unterleib, eventuell noch einmal nachtreten und dann gilt es zu rennen, was die Beine hergeben. „Wir wollen nicht angreifen“, macht der 38-Jährige deutlich, „wir wollen nicht siegen, wir wollen uns nur den Weg freikämpfen.“ Wer zu langsam ist und von seinem Verfolger eingeholt wird, wird mit vier Liegestützen bestraft. Was einen im Ernstfall erwarten würde – diesen Gedanken kann so kurz nach den beiden Mordfällen wohl keine der Frauen so einfach verbannen.

Mittwoch, 23. November, 17.04 Uhr: Die Soko hat das Ergebnis von etlichen europaweiten DNA-Dateien: kein Treffer. Polizei und Uni starten eine webbasierte Abfrage bei allen Studierenden und Mitarbeitenden der Uni. So sollen vor allem noch unbekannte Gäste der Party (200 waren schon vernommen) gesucht werden. Auch Partyfotos können hochgeladen werden.

Donnerstag, 24. November, 12.24 Uhr: Mittlerweile liegt die Belohnungssumme von Polizei und Privaten bei 35.000 Euro.
 
Mittwoch, 30. November: Das LKA in Stuttgart findet ein 18,5 Zentimeter langes Haar in den am Tatort gesicherten und in drei großen Säcken angekarrten Dornenbüschen. Die DNA ist die des Täters. Die Info über den mutmaßlichen Täter wird an alle Freiburger Polizeikräfte für eine Fahndung weitergegeben. Nach außen dringt nichts.

2. Dezember, 11.30 Uhr: Für eine Pressekonferenz reist Staatssekretär Martin Jäger aus Stuttgart an, er bringt neues Personal mit: „Wir hoffen sehr, dass wir dadurch das subjektive Sicherheitsgefühl verbessern können“, sagt er. Oberbürgermeister Dieter Salomon dankt der Landesregierung für die 25 zusätzlichen Kräfte: „Wir diskutieren die Sicherheitslage seit acht Jahren unter verschiedenen Überschriften. Jetzt habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass das Thema auch bei der Landesregierung angekommen ist.“ Für Polizeipräsident Bernhard Rotzinger war die Verstärkung „ein notwendiger Schritt“ zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit: „Wir haben schon vor Einrichtung der Sokos gesagt: Wir sind am Anschlag.“ 12.30 Uhr: Noch während der Pressekonferenz kontrollieren Beamte des Polizeipostens Littenweiler einen jungen Mann, der den Fahndungsaufzeichnungen ähnlich sieht. Auf Beschluss der STA wird eine DNA-Probe genommen. In der Nacht teilt das LKA mit, dass es dieselbe DNA wie die am Tatort ist.

Samstag, 3. Dezember, 7.01 Uhr: Polizei und STA laden erneut die Presse ein. Schon die Uhrzeit lässt erahnen, dass es etwas Wichtiges gibt.
15 Uhr: Dieter Inhofer, Leiter der Staatsanwaltschaft, Peter Egetemaier, Leiter der Kripo, und der Leiter der Soko, David Müller, teilen mit, dass ein Tatverdächtiger „soeben“ gefasst wurde. Nach dem Fund des Haares haben die Ermittler zig Stunden Videomaterial durchkämmt. Eine Polizeimeisterin wurde auf einem Band fündig, das in der Straßenbahnlinie 1 aufgenommen wurde. Darauf war der 16-jährige Täter zu sehen, der in der Tatnacht gegen 2 Uhr stadtauswärts fuhr und an der Lassbergstraße ausstieg. Der Schüler Hussein K. kommt aus Afghanistan, war im vergangenen Jahr unbegleitet nach Deutschland eingereist. Er wird an diesem Tag in die U-Haft eingeliefert und schweigt. Eine Verbindung zum Sexualmord in Endingen am 6. November gibt es bis Redaktionsschluss nicht. 16.33 Uhr: Salomon mahnt, die Herkunft des Täters nicht für Pauschalurteile heranzuziehen, sondern den Einzelfall zu betrachten.

4. Dezember: Die Studenteninitiative Weitblick und die Facebook-Initiative „Flüchtlingshilfe Freiburg“ schließen ihre Accounts wegen rechter Hetze und Morddrohungen. Der Freiburger Politikwissenschaftler Ulrich Eith sieht in der Flüchtlingsfrage Freiburg gespalten: „Es gibt einen kleinen Teil in der Bevölkerung, der sich lautstark gegenüber Flüchtlingen ausspricht. Doch dem gegenüber steht ein enormes zivilgesellschaftliches Engagement in einem Ausmaß, wie wir es in Deutschland noch nicht erlebt haben.“ 16 Uhr: 20 AfD-Mitglieder treffen sich für eine spontane Kundgebung „gegen die Merkelsche Politik“ auf dem Münsterplatz. Sie werden von 200 Gegendemonstranten mundtot gemacht.

6. Dezember, 12.33 Uhr: Der Freiburger CDU-Bundestagsabgeordnete Matern von Marshall schreibt: „Ich bin entsetzt zu erleben, wie jetzt zahlreiche Menschen die allgemeine Abscheu über dieses widerliche Verbrechen dazu nutzen, ihrem Ausländerhass ganz unverhohlen Luft zu machen und ihn zugleich bei anderen zu schüren. Aber selbstverständlich müssen wir die notwendigen Lehren aus den bisherigen und zu erwartenden Erkenntnissen ziehen. Junge Männer, die aus fremden Ländern alleine hierher kommen, müssen wir viel genauer unter die Lupe nehmen, weil sie meist ein hartes, manchmal auch kriminelles Vorleben hinter sich haben. “ Bundesweit warnen Politiker vor Volksverhetzung.

7. Dezember: Die Herkunft des Verdächtigen löst deutschlandweit eine Debatte aus: Sind Flüchtlinge krimineller als der „Bio-Deutsche“, wie es Sandra Maischberger formuliert? Neigen sie eher zu sexuellen Straftaten? Die Freiburger Islamwissenschaftlerin und Kulturanthropologin Fatma Sagir warnt im chilli-Gespräch davor, zu verallgemeinern: „Ob ein Flüchtling beispielsweise aus einem Bergdorf kommt, wo erstarrte Traditionen herrschen, oder aus einer Metropole stammt, in der es weniger strenge sexuelle Restriktionen gab, macht einen großen Unterschied.“ Wie die Rolle der Frau aussieht, hänge von vielen Faktoren ab wie der Bildung, der ökonomischen Situation oder dem Frauenbild in den Medien. Natürlich präge es die Denkweise, wenn jemand in einer Gesellschaft lebt, in der bei sexueller Nötigung keine Sanktionen folgen. Mit dem Islam habe das aber primär wenig zu tun: „Wie in allen Weltreligionen ist auch im Islam ganz klar festgeschrieben, dass Übergriffe verboten sind. Es gibt im Gegenteil viele Verse, die auf die gegenseitige Achtung von Mann und Frau eingehen.“ Das Problem sei vielmehr die Deutung: In den meist männerdominierten Gesellschaften seien die Texte oftmals so ausgelegt worden, dass sie die Unterdrückung der Frau religiös legitimiert haben. Durch ihre Arbeit in der Flüchtlingshilfe weiß Sagir, dass bei vielen Flüchtlingen ein Umdenken eingesetzt hat. „Natürlich kann es zu Irritationen kommen, wenn Flüchtlinge im Sommer Frauen sehen, die ein kurzes Top oder einen Bikini anhaben“, so die 42-Jährige. „Doch ich habe erlebt, dass die meisten durchaus in der Lage sind, ihr Denken kritisch zu reflektieren.“

Zeichen setzen: Etwa 100 Afghanen versammeln sich am Bertoldsbrunnen, mit Kerzen schreiben sie Maria in die Nacht.

Zeichen setzen: Etwa 100 Afghanen versammeln sich am Bertoldsbrunnen, mit Kerzen schreiben sie Maria in die Nacht.

Donnerstag, 8. Dezember: Die Bild-Zeitung fragt, was die Politik gegen ein falsches Frauenbild bei Flüchtlingen tun muss. Die niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe Doris Schröder-Köpf: „Am besten ist es, wenn Flüchtlinge vom ersten Tag an mit Frauen in Führungs- und Schlüsselpositionen konfrontiert sind.“ Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, fordert mehr weibliches Sicherheitspersonal in Flüchtlingsheimen. Frauenrechtlerin Seyran Ates will verpflichtende Kurse über Frauenrechte, während CDU-Innenexperte Armin Schuster das Frauenbild stärker in den Integrationskursen verankern will. 14 Uhr: Flüchtlingshelfer Hans Lehmann schaut seine E-Mails durch. Am Abend hat er im ARD-Polittalk „Maischberger“ über die Stimmung in Freiburg gesprochen. Rund 50 E-Mails schlagen bei ihm auf, darunter auch Drohungen: „Ihnen fehlt der Kontakt zur Bevölkerung, den werden wir in Kürze herstellen“, liest der ehemalige Schuldirektor vor. Es sind nicht die ersten Hassmails, die er bekommt. Die Intention ist klar: Angst verbreiten. Unter den Helfern. Und unter den Flüchtlingen. „Vor allem die afghanischen Flüchtlinge haben Angst“, sagt Lehmann. „Freiburg hat sich verändert“, sagt der 68-Jährige. Der Vorsitzende des Bürgervereins Oberwiehre-Waldsee bekommt neuerdings E-Mails von Eltern, deren jugendliche Söhne sich nachts nicht mehr auf die Straße trauen. Trotzdem blickt er optimistisch in die Zukunft: „Freiburg ist und bleibt die Wohlfühlstadt Nummer Eins. Auch die schrecklichen Ereignisse werden uns nicht umhauen.“ 16 Uhr: Knapp hundert Afghanen demonstrieren am Bertoldsbrunnen. Ein kleines Mädchen hält ein Schild hoch: „Wir sind Afghanen, aber keine Mörder“. Masoud Farhatyar hat die Aktion mitorganisiert. Er will „Nein sagen zu den Menschen, denen es gar nicht um die Sache geht, die sie nutzen, um gegen Flüchtlinge und Minderheiten zu propagieren.“ Die Protestierenden entzünden Kerzen, die das Wort Maria bilden. Sie brennen noch lange nach Einbruch der Dunkelheit.

12. Dezember, 11.46 Uhr: Auf Nachfrage erklärt die Polizei, dass sich Hussein K. immer noch nicht zur Tat geäußert hat. Sein Verteidiger möchte namentlich nicht genannt werden. Das chilli geht in den Druck.

Text: Tanja Bruckert und Lars Bargmann / Fotos: © Till Neumann, tbr, pixabay