Todesengel in Weiß: Zeitzeugengespräch über Euthanasie im Augustinermuseum STADTGEPLAUDER | 30.03.2017

Ernst Lossa war 12, als er 1942 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren Irsee kam. Und er hatte schon einige Erfahrung mit Heimen: Seit seinem vierten Lebensjahr, nach dem Tod seiner Mutter, war er notgedrungen immer wieder in Waisenhäusern: Sein Vater war als Hausierer unterwegs, hatte keinen festen Wohnsitz mehr und konnte sich nur dann um seinen kleinen und später noch dazu schulpflichtigen Sohn kümmern, wenn dieser Ferien hatte und ihn auf seinen Arbeitstouren begleiten konnte. Durch diese Ungewissheit und die nicht eben pflegliche Behandlung im Kinderheim wurde der eigentlich freundliche und ausgesprochen gutmütige und hilfsbereite Junge ein wenig bockig, was damals eben gleichbedeutend war mit „unerziehbar“, wenn nicht gar „lebensunwert“. Zumal Ernst auch der Minderheit der Jenischen angehörte, die rassistischer Verfolgung ausgesetzt waren – viele seiner Verwandten waren bereits in Konzentrationslager verschleppt worden.

Hier, in diesem Erziehungsheim, beginnt der Film über Ernst Lossas Leben, das gerade noch zwei Jahre dauern sollte: Im August 1944 wurde er durch Injektion eines tödlichen Mittels ermordet – in der zweiten Phase der NS-Euthanasie. Will er, so stand in seiner Akte als „gering begabter, triebhafter Psychopath“ eingestuft worden war.

Davon ist indessen im ganzen Film nicht das Geringste zu spüren, ganz im Gegenteil: Ernst, sehr berührend und überzeugend verkörpert von Ivo Pietzcker, ist ein aufgeweckter Kerl, der sich den anderen, zum Teil schwer psychisch und physisch kranken Heimbewohnern mit einer außergewöhnlichen Empathie zuwendet und bei ihnen entsprechend beliebt ist.

Durch seinen intensiven Kontakt mit seinen Leidensgenossen kommt er aber einem Verbrechen auf die Spur: Der Ermordung von Menschen, die nach der Nazi-Ideologie als „Schädlinge am gesunden Volkskörper“ galten. Die Todesfälle häufen sich, bei fast allen wird Lungenentzündung als Todesursache angegeben. Gemeinsam mit der als Kinderkrankenschwester tätigen jungen Nonne Sophie versucht er zwar, die Todgeweihten zu retten; gegen das unerbittliche System haben sie jedoch keine Chance. Zumal der nach außen stets so verständnisvolle, in Wahrheit aber von der Richtigkeit der Euthanasie überzeugte Oberarzt Dr. Veihausen in der eiskalten engelsgesichtigen Kinderärztin Edith Kiefer eine Verbündete findet, die ihr medizinisches Können bedenken – und gnadenlos in den Dienst der herrschenden Ideologie stellt, der jedes menschliche Mitgefühl fremd ist.

Ernst, der eigentlich nur darauf wartet, dass sein Vater ihn, wie versprochen, endlich abholt – bei der letzten, tieftraurigen Begegnung der beiden wurde ihm dies wegen des fehlenden ständigen Wohnsitzes verweigert –, gerät als Augenzeuge der Tötungen in eine lebensgefährliche Situation. Und fällt bei einem vergeblichen Fluchtversuch endgültig in die Hände der Todesengel in Weiß.

Anhand dieser persönlichen Geschichte eröffnet der 2016 mit dem Friedenspreis des Deutschen Films ausgezeichnete Film einen Einblick in eine besonders grausame Facette der NS-Geschichte, die noch nicht sehr umfassend erforscht ist, die aber sehr nachhaltig wirkt – etwa in der so genannten eugenischen Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch, der im Fall einer genetischen Auffälligkeit eines ungeborenen Kindes bis zur 24. Woche ganz legal erfolgen kann. So war im Begleitprogramm zur derzeit im Augustinermuseum gezeigten Ausstellung „Nationalsozialismus in Freiburg“ im Kommunalen Kino außer „Nebel im August“ auch der ziemlich schonungslose Film „24 Wochen“ zu sehen. Und eine Ausstellung mit dem Titel „Über Mutter wird nicht gesprochen“, mit der an Freiburger erinnert wurde, die auch Opfer der Euthanasie wurden.

Dass es sich Freiburg auch in dieser Hinsicht nicht anders lebte als im ganzen „Dritten Reich“, ist in dem gleichnamigen, sehr erschütternden Buch der Freiburger Hilfsgemeinschaft e.V. dokumentiert. Mehrere Autoren zeichnen darin Biografien von Menschen nach, die ab 1934 aufgrund ihrer oft nur sehr vage diagnostizierten psychischen Erkrankung das Recht auf Leben abgesprochen wurde, die systematisch ermordet oder auch zwangssterilisiert wurden. Dieses wichtige Buch bringt zumindest ein wenig Licht in ein Tabu-Thema, das viel zu lange im Dunkeln blieb. Es ist erst seit kurzer Zeit im Buchhandel.

Else Wagner ist eine der Frauen, die in dem Buch porträtiert werden. Die nicht gerade in üppigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebende Familienmutter von vier Kindern und fünf Stiefkindern kam 1932 in die psychiatrische Universitätsklinik und wurde 1933 in die Badische Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen verlegt. Dort blieb sie bis August 1940, als sie als „ungeheilt“ entlassen wurde. Jedoch nicht nach Hause, in die Knopf-Häusle, sondern in die Tötungsanstalt Grafeneck bei Gomadingen, wo sie noch am Tag ihrer Ankunft ermordet wurde.

Ihre jüngste Tochter Irene Schäuble war damals 13 Jahre alt. Am Sonntag, 2. April, 15.30 Uhr wird sie am Ausstellungsort im Augustinermuseum im Rahmen der Zeitzeugengespräche vom Schicksal ihrer Mutter berichten – unter dem Motto „Über Mutter darf doch gesprochen werden“.

Text: Erika Weisser / Bild: © Studiocanal

Nebel im August
Deutschland 2016
Regie: Kai Wessel
Mit: Ivo Pietzcker, Sebastian Koch, Fritzi Haberlandt u.a.
Studio: Arthaus
Laufzeit: 121 min.
Preis: ca. 14 Euro

Freiburger Hilfsgemeinschaft e.V. (Hrsg.)
Über Mutter wird nicht gesprochen…
„Euthanasie“-Morde an Freiburger Menschen
144 Seiten, Taschenbuch
Mabuse-Verlag 2017
Preis: 22,95 Euro