Verlorener Feierabend: Forscher erproben Spielregeln für ständige Erreichbarkeit SPECIALS | 26.07.2017

Feierabend? Klingt nach abschalten, entspannen. Doch was, wenn der Chef plötzlich anruft? Rangehen? Ignorieren? Zurückrufen? Solche Fragen untersucht ein Freiburg-Münchner Forschungsprojekt. Mit fünf IT-Unternehmen haben die Wissenschaftler Probleme ausgemacht und Lösungen gesucht. Ein Ergebnis: Echter Stress lässt sich kaum ausgleichen.

Nicht immer erreichbar: Matthias Abel und Corinna Heist.

Rund ein Drittel der Angestellten in Deutschland kennt das Dilemma: Ein Vorgesetzter versucht, sie nach Feierabend zu erreichen. „Das stresst“, sagt die Freiburger Wirtschaftspsychologin Nina Pauls. Die Folgen reichten bei längerer Belastung bis zu körperlichen Schäden oder einem Burn-out.

Die 33-Jährige ist Teil eines Teams aus Freiburg und München, das seit zwei Jahren erforscht, welche Formen der Erreichbarkeit Arbeitnehmer belasten und wie man den so entstehenden Stress reduzieren kann. Mit fünf IT-Firmen haben die Wissenschaftler fürs Projekt „MASTER – Management ständiger Erreichbarkeit“ das Phänomen untersucht und Lösungsansätze entwickelt.

Eines der Kernprobleme, so Pauls: „Vieles ist betrieblich oder gesetzlich nicht geregelt.“ Arbeitnehmer wissen also nicht, wie sie reagieren sollen. Ist es ein Notfall, wenn der Boss um 23 Uhr anruft? Oder nur eine Kleinigkeit, die auch morgen besprochen werden kann? „Regeln sind wichtig“, sagt Pauls. So könne zum Beispiel vereinbart werden, dass Mails unter der Woche ab 18 Uhr nicht mehr beantwortet werden. Und am Wochenende prinzipiell gar nicht.

Im Feierabend mit Beruflichem belastet zu werden, ist heikel: Die Gedanken kreisen darum, das könne man schlecht zeitlich ausgleichen, sagt Pauls. Gleiches gelte für den anstehenden Sommerurlaub. Wer dort plötzlich zehn Minuten mit dem Chef telefoniert, ist belastet.

Ab wann wird der Feierabendstress gesundheitsgefährdend? Wenn die Aufgaben in der eigentlichen Arbeitszeit nicht mehr zu bewältigen sind, sagen die Forscher. Problematisch sei, wenn Beschäftigte auch in der Freizeit arbeiten – zum Beispiel, indem sie Verantwortung für Zwischenfälle im Unternehmen übernehmen.

Das sieht auch Matthias Abel so. Der Geschäftsführer der Freiburger Software-Firma kühn & weyh findet freie Zeit heilig, stören solle man die Kollegen nur im Notfall. „Wer glaubt, Feierabend ist was für Warmduscher, irrt“, sagt Abel. Entspannung sei wichtig, um gute Arbeit machen zu können.

Bei kühn & weyh wird auf Vertrauensbasis gearbeitet, Flexibilität schreibt das IT-Unternehmen groß. „Das Thema wird immer wichtiger“, sagt der 41-Jährige, der selbst einen Sohn hat. Seine Mitarbeiter können frei wählen, wann sie außerhalb der Kernarbeitszeit von halb 10 bis halb 4 arbeiten. Wer spätabends im Einsatz ist und Kollegen eine Nachricht schickt, hat dort kein Recht auf eine sofortige Rückmeldung.

kühn & weyh hat bei Pauls Projekt mitgemacht. In einem Workshop sammelten und diskutierten sie kritische Punkte. Abel ist dabei aufgefallen, dass viel weniger Mitarbeitern als gedacht klar ist, was von ihnen erwartet wird. „Es ist voll okay, seinen Tag flexibel zu gestalten“, sagt er. Wichtig sei aber, den Kollegen zu kommunizieren, wann man arbeite.

Auch Corinna Heist vom Marketing und Betriebsrat der Firma ist dieser Meinung: „Ich rate allen, ihre Arbeitszeiten aufzuschreiben, Außentermine und Home-Office-Zeiten in den gemeinsamen Kalender einzutragen.“ Immer mal wieder hört sie Kritik: Mitarbeiter bezweifeln, ob es bei den flexiblen Arbeitszeiten gerecht zugeht. Der Online-Kalender des Unternehmens ist ein gutes Mittel dagegen, findet Heist. So sei für andere nachvollziehbar, was genau man mache.

Mitarbeiter in ihrer Freizeit anzurufen, war für Abel schon vor dem Forschungsprojekt tabu. Teilgenommen zu haben, hat ihn dennoch sensibilisiert: „Ich achte mehr darauf, was ich sage und wie ich es formuliere.“ Denn ihm ist klar geworden: Kleine Nuancen können große Unterschiede machen.

Text und Foto: Till Neumann

Info: Ergebnisse und praktische Handlungshilfen des Forschungsprojekts „MASTER – Management ständiger Erreichbarkeit“ gibt’s auf: www.erreichbarkeit.eu