Wenn die Haut zu dünn ist: Aus dem Leben einer Hochsensiblen STADTGEPLAUDER | 22.03.2017

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt: Das ist das Leben von Petra Kortmann. Die 51-Jährige ist hochsensibel – so wie schätzungsweise jeder fünfte Mensch. Hochsensible nehmen Reize intensiver wahr, etwa Gerüche, Farben und Klänge. Viele von ihnen sind – so wie Kortmann – zudem besonders empathisch. Für die Betroffenen ist das meist Segen und Fluch zugleich: Wer ständig mit Reizen bombardiert wird, ist schnell überfordert. Ein Leben als Prinzessin auf der Erbse.

Bevorzugt leere Gasträume: Von Stimmengewirr ist Petra Kortmann schnell überfordert.

Bevorzugt leere Gasträume: Von Stimmengewirr ist Petra Kortmann schnell überfordert.

Nachrichten nebenbei im Auto hören ist für sie unmöglich. Mitten in der Menge bei einem Rockkonzert feiern – undenkbar. Beim Zahnarzt braucht sie bereits bei kleinen Eingriffen eine Betäubung. Doch es gibt auch die andere Seite in Petra Kortmanns Leben: einen Menschen schon nach wenigen Minuten genau einschätzen zu können. In Bäumen, Drachen und in Wolken Gesichter zu entdecken. Sich an Kleinigkeiten zu erfreuen, die andere übersehen.

Woran genau es liegt, dass manche Menschen mehr wahrnehmen als andere, ist noch weitgehend unerforscht. Eine „besondere neurologische Konstitution“ nennt der Forschungsverbund Hochsensibilität vage als Grund. Doch sind Hochsensible einfach etwas empfindsamer als andere Menschen oder nehmen sie die Welt ganz anders wahr? Hat Elaine Aron, die den Begriff Mitte der 90er Jahre geprägt hat, ein neues Persönlichkeitsmerkmal entdeckt oder zeigt sich hier einfach nur eine Facette eines neurotischen Charakters? Die Forschung zu dem Phänomen ist dünn.

Im Internet kursieren zahlreiche Tests, mit denen man seine eigene Sensibilität testen kann – wissenschaftlich anerkannt sind sie nicht. Kortmann ist durch ihren Sohn auf ihre Hochsensibilität aufmerksam geworden. Im Kindergarten war der heute Zehnjährige aufgefallen: Er sei „anders“ sagten die Erzieherinnen, male überdurchschnittlich gut, schien Stimmungen schnell zu ergreifen, hielte es aber nie lange in einer größeren Gruppe aus. Die 51-Jährige wendet sich an eine Therapeutin, die sie mit Informationen zum Thema „Hochsensibilität“ versorgt. „Was da beschrieben wurde, genau das war mein Sohn“, erinnert sie sich. Darauf ist sie so fixiert, dass es eine Weile dauert, bis sie merkt: „Moment, das alles bin ja auch ich.“

In ihrem Beruf kam der Sozialpädagogin ihre gute Wahrnehmung schon immer zugute. In einer Eltern-Kind-Fachklinik habe sie schon nach wenigen Minuten feststellen können, welche Schwierigkeiten die Patienten hatten. Auch Lügen durchschaue sie schnell, sagt Kortmann.

Das Leben als Hochsensible kann aber auch anstrengend sein. Hintergrundmusik im Supermarkt, das Duftpotpourri in einer Parfümerie, einengende Kleidung – Reize, die Otto Normal einfach ausblendet, überfordern die Teningerin. Wenn sie ein Restaurant verlässt, kann sie die Beziehung der Menschen an den Nachbartischen beschreiben, weiß, wie es dem Kellner heute geht und wie das Betriebsklima ist.

Kortmann ist sehr darauf bedacht, welchen Gefühlen sie sich aussetzt: „Ich überlege mir gut, welche Filme ich mir anschaue: Das Gefühl, das ein Film in mir auslöst, hängt mir oft noch sehr lange Zeit nach.“ Morgens in der Zeitung Nachrichten von Krieg oder Unglücken zu lesen und dennoch fröhlich zur Arbeit zu kommen, ist für sie undenkbar. Missen möchte sie ihre Hochsensibilität dennoch nicht: „Ich sehe es als eine Art Hochbegabung im Bereich der Wahrnehmung. Das ist anstrengend, aber es führt auch zu einem sehr reichen, intensiven Leben.“

Text & Foto: Tanja Bruckert