Russisches Ritalin-Roulette: Lerndoping bei Freiburger Studenten KARRIERE & CAMPUS | 14.03.2016 | Till Neumann

Prüfungsstress, Schlafmangel, Überforderung. In der Not greift so mancher Student zu Aufputschmitteln. Wenn Kaffee und Koffeintabletten nicht mehr helfen, gilt Ritalin als Zaubermittel. In gewissen Kreisen nimmt laut chilli-Recherchen mindestens jeder zehnte Student das ADHS-Medikament. Zwei Freiburger berichten der Redaktion anonym von der erstaunlichen Wirkung. Doch die Folgen können fatal sein.

Michael (*) wurde alles zu viel. Die Zulassungs-Arbeit im Studium musste fertig werden, das Examen rückte näher. „Ich habe schlecht geschlafen und konnte nicht abschalten. Der einzige Weg, die Arbeit rechtzeitig fertig zu bekommen, waren zwei Nachtschichten“, erzählt der 27-Jährige. Der Freiburger Politik-Student wusste, was Ritalin ist: „Fast jeder hat schon davon gehört“, sagt er.  

„Um wach zu bleiben, stand ich vor der Wahl zwischen einer Menge Kaffee, was kein Verdauungstrakt so geil findet, und diesem ominösen Zaubermittelchen“, berichtet der Student. Ein Bekannter hat ADHS, von ihm bekam er Pillen zum Probieren. Am Ende siegten Neugier und Not.  

Die 10-Milligramm-Tabletten sind eine Dosis für Schulkinder. Laut Packungsbeilage sollte die Wirkung „zirka einen Schultag“ anhalten. Nach einem langen Tag am Schreibtisch warf Michael gegen 17 Uhr die erste Tablette ein. „Nach einer Viertelstunde setzte ein leichter Tunnelblick ein, der Körper fühlte sich etwas leichter an, alles wurde weicher“, erinnert er sich. „Die Arbeit lief völlig unbeschwert. Der übliche gelegentliche Blick auf Facebook wurde nach wenigen Sekunden einfach uninteressant, Umgebungsgeräusche lenkten mich nicht ab.“ Trotzdem sei er normal ansprechbar gewesen. Hunger und Durst hatte er nicht, musste sich gar überwinden, etwas zu sich zu nehmen.  

Die erste richtige Pause machte er um 23 Uhr. Etwas müde griff er zur zweiten „Kinderdosis“. „Sie machte mich schnell wieder hellwach, ich wurde aufgedreht, begann etwas zu schweben und fühlte mich rundum hochzufrieden“, sagt der Student. Bis um 8 Uhr arbeitete er nonstop. „Vom Drehstuhl fiel ich dann aber direkt ins Bett.“ Nach ein paar Stunden Schlaf und einer weiteren Tablette schloss er sein Projekt ab.  

Auch Andrea (*) hat Ritalin genommen. Die 23-jährige Studentin ist im ersten Semester, trotz Lerngruppen in der Freiburger UB wuchs ihr der Stress über den Kopf: „Ständige Versagensängste machten mir zu schaffen – auch nachts. Dazu kamen viele private Probleme: Liebeskummer, Krankheit, Streit mit Freunden.“ Irgendwann hatte sie das Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein. „Alles fühlte sich finster an, ich befand mich in einem Loch aus komischen Depressionen.“     

Doping: Ritalin-Tabletten gibt es nur auf Rezept – oder auf dem Schwarzmarkt.

In ihrem Studiengang ist Lerndoping weit verbreitet. Von 80 Leuten weiß sie von 9 sicher, dass sie zum Lernen Ritalin nehmen. Oder Speed. Freunde hatten ihr schon mehrfach die Tabletten angeboten. Bisher hatte sie immer dankend abgelehnt. Doch jetzt musste eine Lösung her: Ritalin? Kommilitonen hatten ihr versichert, dass es die Laune und Konzentration erheblich steigere. Pauken sei plötzlich kein Problem mehr, der Lernstoff bleibe auf Anhieb im Kopf. „Ok, ein Versuch war es wert“, sagte sich Andrea.  

Obwohl ihr kostenlose Testpillen angeboten wurden, wollte sie nichts vom Schwarzmarkt. Auf die Frage, wo die anderen es herhaben, hieß es nur: „Wir haben unsere Quellen.“ Das war Andrea zu unsicher. Im Netz las sie, dass nicht jeder Allgemeinmediziner befugt sei, so ein Rezept auszustellen. Also fuhr sie auf gut Glück zu einem Arzt, erzählte von ihren Problemen und bat um ein Ritalin-Rezept. Der weigerte sich zuerst strikt. „Ich habe ihn bestimmt eine Stunde mit meinen Argumenten bekniet und geweint“, sagt Andrea. Dann bekam sie das Spezialrezept mit doppeltem Durchschlag. Die Apothekerin musste es unterschreiben und das Medikament extra liefern lassen.  

Laut Arzt wirken die 20-Milligramm-Tabletten maximal drei Stunden. An einem Tag nahm sie zwei Pillen. „Schon eine Stunde nach der Einnahme hatte ich diesen Tunnelblick. Ich war total konzentriert auf meine Bücher, Aufschriebe und Rechenblätter. Ich war wie eine Maschine“, sagt Andrea. „Ich wollte lernen, hatte das Gefühl, wie ein Schwamm alles in mich aufzusaugen. Geräusche, Musik, Kälte – alles um mich herum war plötzlich unwichtig, fast so, als wäre nichts mehr davon da.“  

Trotz des Dopings hat sie nicht alle Klausuren bestanden. Die wird sie wiederholen müssen, Ritalin will sie aber nicht noch mal schlucken. „Nach den Prüfungen hatte ich nicht mehr das Bedürfnis, weitere Pillen nehmen zu müssen. Allerdings kam ich nach ein paar Tagen wieder in dieses Loch“, erzählt die Studentin. Sie war traurig, niedergeschlagen, von vielen alltäglichen Dingen überfordert und reizbar. Kommilitonen meinten, dass sich ihr Charakter in der Lernphase zum Negativen verändert habe. Ob das am Ritalin lag, kann Andrea nicht sagen. Heute geht es ihr wieder gut: „Wochen später war ich zum Glück wieder ich selbst.“  

Auch Michael hatte mit den Folgen zu kämpfen: „Ich war zirka zwei Tage lang niedergeschlagen und hatte depressive Verstimmungen. Ist aber kein Wunder, wenn man seine Serotoninspeicher künstlich entleert.“ Lerndoping sieht er prinzipiell kritisch: „Ich halte wenig davon, vor der Leistungsgesellschaft in die Knie zu gehen und sich mit chemischen Drogen einen Vorteil zu verschaffen.“ Im Notfall würde er es aber wieder machen. Wenn es nicht anders geht. * richtiger Name der Redaktion bekannt.  

Ritalin – weit verbreitet und gefährlich  

Jeder fünfte Student putscht sich auf. Das ergab eine Studie der Universität Mainz im Jahr 2013. Zu den Hirndoping-Mitteln zählen Koffeintabletten, Kokain oder Ritalin. Für den Kinderpsychiater Christian Fleischhaker von der Freiburger Uniklinik ist das keine Überraschung: „Ritalin wirkt gut, das ist sehr effektiv, aber ein Stückchen Russisch Roulette.“ Im Zweifelsfall könne schon der einmalige Konsum von Ritalin ernsthafte psychische Erkrankungen mit sich bringen. Angst- oder Panikattacken könnten die Folge sein, in seltenen Fällen auch Psychosen. Wer so etwas habe, höre Stimmen, fühle sich verfolgt. „Psychisch macht Ritalin ganz sicher abhängig, je nach Präparat auch körperlich“, betont der ADHS-Experte.  

„Die Tabletten kann man problemlos für fünf bis zehn Euro am Bahnhof kaufen“, sagt Fleischhaker. Bei ADHS-Patienten sei das Medikament sinnvoll, wenn andere Methoden nicht helfen. Als Hirndoping findet er es aber „völligen Wahnsinn“. Zumal niemand wisse, welche Langzeitschäden das Medikament anrichte.  

Hinter dem Ganzen sieht er eine ethische Frage: „Wollen wir uns eingestehen, nicht immer leistungsfähig zu sein?“ Die ständige Leistungsverdichtung sei verrückt. Fleischhaker malt eine Horrorvision an die Wand: Irgendwann prüfe der Arbeitgeber morgens, wie fit man ist und lege die Dosis fest. Die zehn Prozent Ritalin-Konsumenten an der Uni, von denen Andrea dem chilli berichtet, überraschen ihn nicht. „Das ist die Realität. In den USA sind es sogar noch mehr.“ 

Fotos: © ximagination, pixelio.de