Auch nach einem Jahr Mindestlohn ist die Kritik noch nicht verstummt STADTGEPLAUDER | 09.04.2016

Seit dem 1. Januar 2015 gibt es in Deutschland den gesetzlichen Mindestlohn – und seitdem erhitzt er die Gemüter. Nicht nur der renommierte Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen hält ihn für falsch. Besonders groß ist der Unmut in der Gastronomie. So leiden laut einer aktuellen Umfrage des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga mehr als 60 Prozent der Mitgliedsbetriebe in Baden-Württemberg unter Ertragseinbußen durch das Mindestlohngesetz. Auch in Freiburg klagen die Gastronomen – mit dem Mindestlohn an sich hat das jedoch gar nichts zu tun.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund jubelt: Der Mindestlohn sei „bislang ein großer Erfolg“. Statistiken scheinen das zu untermauern: Seit der Einführung ist die Beschäftigung gestiegen, die Arbeitslosigkeit gesunken. Es gibt weniger Minijobs und mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Freiburg macht da keine Ausnahme: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Region ist von Juni 2014 bis Juni 2015 um zwei Prozent gestiegen, die der geringfügig Entlohnten hingegen erstmals seit Jahren leicht gesunken.

„Der Mindestlohn hat am Beschäftigungstrend nichts geändert“, sagte Enzo Weber, Arbeitsforscher des Institute for Employment Research (IAB) bei einem Vortrag in der Freiburger Agentur für Arbeit. „Bisher ist nicht zu beobachten, dass er dem Arbeitsmarkt geschadet hat. Man kann dadurch aber auch nicht wesentlich Armut beseitigen“, so sein nüchternes Fazit. Genaue Evaluationen werde man erst 2017 machen können, vorher beruhe jede Bewertung lediglich auf Einschätzungen.

Auch der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen warnt vor voreiligen Schlüssen. Ohne Korrelationsanalysen könne man nicht beurteilen, ob die Wirtschaft in dieser konjunkturellen Hochphase ohne den Mindestlohn nicht noch besser dastehen würde.

„Ich halte den Mindestlohn nach wie vor für falsch“, so der Kritiker. Bei manchen Menschen läge die Produktivität einfach auf einem Niveau, das keine 8,50 Euro die Stunde wert sei. „Eine Gruppe, die ganz sicher massiv unter dem Mindestlohn leiden wird, sind die Zuwanderer mit niedrigem Qualifikationsniveau.“

Eine These, die Hanspeter Fakler, Pressesprecher der Freiburger Agentur für Arbeit, so nicht unterschreiben würde: Für Langzeitarbeitslose gebe es bereits eine Ausnahmeregelung vom Mindestlohn (Unternehmer könnten sechs Monate weniger bezahlen), die im Freiburger Bereich allerdings noch in keinem Fall in Anspruch genommen wurde. „Wir gehen davon aus, dass das bei Flüchtlingen genauso wäre.“

Dass der Mindestlohn ein Weg aus der Armut sei, hält er jedoch ebenfalls für unrealistisch: Mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro bleibe man in Freiburg – vor allem als Ernährer einer Familie – weiterhin in der Bedürftigkeit.

Das zeigt auch eine Renten-Berechnung des Bundesarbeitsministeriums: Um eine Rente von mindestens 769 Euro pro Monat – also gerade einmal die Grundsicherung im Alter – zu bekommen, müsste ein Beschäftigter mindestens 11,50 Euro pro Stunde verdienen. Und das 45 Jahre lang bei einer Vollzeitstelle. Für Arbeitnehmervertreter wie die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ist eine Erhöhung daher unumgänglich. „Ein Leben lang arbeiten und dann doch nur ‚Alters-Hartz-IV‘ bekommen – das kann und das darf es nicht sein. Der gesetzliche Mindestlohn steckt noch in den Kinderschuhen. Aber wir werden ihn groß bekommen“, ist sich NGG-Geschäftsführer Claus-Peter Wolf sicher.

Ein weiterer Kritikpunkt: Die geringe Zahl der Menschen, die überhaupt profitiert haben. Anders als in Ostdeutschland, wo laut IAB-Studie vor Einführung des Mindestlohns 24 Prozent der Betriebe mindestens einem Mitarbeiter keinen Mindestlohn bezahlten, waren es in Baden-Württemberg weniger als 7 Prozent. „Letztendlich gibt es in unserer Region wenige schwarze Schafe“, weiß Andreas Kempff, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Südlicher Oberrhein. „Die meisten zahlen den Mindestlohn oder mehr. Die wenigen, die darunter lagen, hätten mit dieser Bezahlung früher oder später vermutlich keine Mitarbeiter mehr gefunden und ihre Bezahlung anpassen müssen.“

Ähnlich wie in der Industrie stellt sich die Lage auch im Handwerk dar: „In vielen Bereichen des Handwerks liegt die Vergütung der Mitarbeiter schon lange über dem gesetzlichen Mindestlohn“, so Wolfram Seitz-Schüle, Geschäftsführer der Handwerkskammer (HWK) Freiburg. Klagen über den Mindestlohn an sich – sagt auch Kempff – gebe es kaum, eher über die damit verbundenen Dokumentationspflichten.

Selbst im Gastgewerbe – der Branche, in der der Mindestlohn laut IAB am stärksten gegriffen hat – sind die 8,50 Euro kein Aufreger. Auch nicht für Jörg Dattler, Geschäftsführer des Schlossbergrestaurants Dattler: Schon vor der Einführung habe jeder Mitarbeiter – einschließlich der studentischen Aushilfen – mindestens 8,50 Euro bekommen. Dennoch muss Dattler finanzielle Einbußen hinnehmen: „Das Problem ist, dass das Arbeitszeitgesetz so in den Fokus gerückt ist.“ Durch das Mindestlohngesetz wird verstärkt darauf geachtet, dass die Schichten nicht länger als zehn Stunden sind – eine Regelung, die sich mit dem Gastronomiealltag schlecht verträgt. So würden etwa bei einer Hochzeit die Gäste oft bis in die Morgenstunden feiern wollen. Seit dem Mindestlohn sei bei ihm jedoch um drei Uhr Schluss. „Ich kann schließlich nicht mitten in der Nacht die Schicht wechseln. Welcher Mitarbeiter macht denn das mit?“ So ist einfach Schicht im Schacht.

Auch für den Freiburger Gastronomen Toni Schlegel, der unter anderem das Greiffenegg Schlössle oder den Ganter Brauereiausschank betreibt, sind die Arbeitszeitregeln das eigentliche Übel: „Branchenweit hat das dazu geführt, dass die Öffnungszeiten eingeschränkt wurden. Auch das Greiffenegg Schlössle musste einen Ruhetag einführen.“ Die Regelung habe die Gastronomie durch den leer gefegten Arbeitsmarkt besonders getroffen: Es fänden sich keine Kräfte, die die kürzeren Arbeitszeiten auffangen könnten. „Im letzten Jahr haben wir einige Tage nicht so stark auslasten können, wie wir uns das gewünscht hätten“, moniert Schlegel. Auch die Mitarbeiter selbst seien genervt. Viele hätten gerne in vier Tagen 40 bis 48 Stunden gearbeitet, um dann drei, vier Tage freizumachen. Das ist nun nicht mehr möglich.

Die einzigen, die bei ihm vom Mindestlohn profitierten, seien die studentischen Aushilfen, so der Gastronom: „Und das war ja wohl nicht die Gruppe, die geschützt werden musste.“

Text: Tanja Bruckert / Foto: © NGG