In der Geschichtsstille: Regisseur Petzold verlegt Flucht­roman „Transit“ in das heutige Marseille Kinonews | 04.04.2018 | Erika Weisser

Anna Seghers’ geschichtszeitloser, 1941/42 verfasster Fluchtroman „Transit“ ist in die richtigen Hände geraten: Christian Petzold hat aus dem vielschichtigen Werk einen Film gemacht, der – ganz nah am literarischen Original – eindringlich zeigt, was die Notwendigkeit zur Flucht mit den betroffenen Menschen macht, wie die damit verbundene Erfahrung von Lebensgefahr, Todesangst, Entsolidarisierung, Verfolgung und Ungewissheit das Verhalten von Flüchtenden bestimmt.

Und dass, solange es diktatorische Regimes, Verteilungskämpfe, Ausbeutung und Kriege gibt, Flucht zu jeder Zeit und an jedem Ort Thema sein kann.

Er bedient sich dazu eines ebenso einfachen wie verblüffenden Tricks: Er verlegt die Geschichte, die im Marseille der 1940er Jahre spielt, in das Marseille von heute: Die Flüchtlinge, die die Hafenstadt am Mittelmeer in der Hoffnung auf einen Transit nach Übersee bevölkern, gehen durch zeitgemäße Viertel mit breiten Straßen und modernen Autos; dabei wirken auch die allenthalben patrouillierenden Polizisten sowie die Bediensteten der diversen Botschaften und Konsulate wie Leute von heute.

In dieser Stadt strandet nach einer risiko- und entbehrungsreichen, von Paris ausgehenden Irrfahrt durch das von den Nazis besetzte Frankreich auch der Hauptprotagonist. Der aber, anders als in Seghers’ Roman, wo er als namenloser Ich-Erzähler einer ebenfalls anonymen Zufallsbekanntschaft das Fluchtstück seines Lebens schildert, einen Namen hat: Georg. Und der ist kein Zufall: Petzold bezieht sich im Film auf den zur Emigration aus Nazideutschland gezwungenen Schriftsteller Georg K. Glaser, der in seiner Autobiographie „Geheimnis und Gewalt“ von einer „Geschichtsstille“ schrieb, die ihn plötzlich umgab.

In diese Geschichtsstille gerät Georg nach seiner Ankunft in Marseille. Er hat weder Ziel noch Plan – bis auf zwei Aufgaben: Er muss die Familie seines unterwegs verstorbenen Fluchtgenossen von dessen Tod unterrichten. Außerdem will er bei der mexikanischen Botschaft ein auf den Namen des Schriftstellers Weidel ausgestelltes Visum für zwei Personen abgeben. Dieses Visum war zusammen mit Weidels Reisepass und einem unvollendeten Buchmanuskript in Georgs Hände gelangt, als er ihm kurz vor seiner Abreise aus Paris ein paar Briefe überbringen wollte. Und zu spät kam: Er hatte sich das Leben genommen.

Bei der Botschaft wird Georg indessen als legitimer Inhaber der wertvollen Reisedokumente angesehen – also passt er sie sich selbst an. Und als sich die mysteriöse Frau, die bei seinen Streifzügen durch die Stadt immer wieder seine Wege kreuzt, als Weidels Frau entpuppt, reift in ihm der Plan für eine gemeinsame Emigration aus Europa.

Ein ganz ausgezeichneter Film, an dem gleich zwei gebürtige Freiburger beteiligt sind: Franz Rogowski als Hauptdarsteller und Bettina Böhler als Montagechefin.

Transit
Deutschland 2017
Regie: Christian Petzold
Mit: Franz Rogowski, Paula Beer, Lilien Batman u.a
Verleih: Piffl
Laufzeit: 101 min.
Start: 5. April 2018

Fotos: © Schramm Film/Marco Krüger