Ab heute im Kino: Der emotionale Thriller „The Salesman” Kinonews | 02.02.2017

Die Wände, die zu Beginn des Films einzustürzen drohen, lassen ahnen, dass an dessen Ende nichts mehr so sein wird wie es war. Nichts. Denn die harmonische Ehe von Emad und Rana, die vorübergehend aus ihrer durch einen nächtlichen, von Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück verursachten Erdrutsch unbewohnbar gemachte Wohnung in eine Behelfsunterkunft ziehen, ist nach zwei Stunden Film ebenso aus den Fugen geraten wie das beschädigte Mietshaus.

Zunächst sind die beiden ja dankbar für die Wohnung, die ihnen ein Kollege von ihrer Laientheatergruppe vermittelt, die deren Inszenierung von Arthur Millers „The Salesman“ sie mit großem Engagement mitwirken. Doch dann holt die Vormieterin, die niemand persönlich kennt, ihre Sachen nicht ab, findet am Telefon immer neue Ausflüchte. Und nach und nach verbreiten sich Vermutungen, Gerüchte über ihre berufliche Tätigkeit: Sie soll viele Männer zu Besuch gehabt haben.

Rana will so schnell wie möglich wieder ausziehen – die Atmosphäre der geflüsterten, nie ganz eindeutigen Vermutungen macht ihr zu schaffen. Und da passiert es: eines Abends ist sie früher von der Theaterprobe zurück als Emad; sie ist müde, will ein Bad nehmen. Als es klingelt, öffnet sie die Wohnungstür, lehnt sie an und geht ins Bad. In der Annahme, dass es ihr Mann sei.

Er ist es aber nicht. Als Emad bald darauf nach Hause kommt, findet er die Wohnung leer, eine Glastür eingeschlagen, Blut auf dem Fußboden. Von den Nachbarn erfährt er, dass sie Rana ins Krankenhaus gebracht haben. Er findet sie dort mit bereits versorgten Schnittwunden vor – und schwer traumatisiert, unfähig, über das Erlebte zu sprechen. Sie weigert sich auch, die Polizei einzuschalten.

Also macht Emad sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Täter. Dabei steigert er sich immer mehr in die Rolle des gnadenlosen Rächers; es entsteht der Eindruck, dass er, der eigentlich moderne und aufgeklärte Mann, die Tat, den Angriff auf seine Frau als Angriff auf seine eigene männliche Ehre sieht, die es wieder herzustellen gilt. Rana ist ob der unerbittlichen, mit wachsender Entfremdung einhergehenden Obsession ihres Mannes zunehmend distanziert, versteht ihn nicht mehr, beschwört ihn, seinen Rachefeldzug zu beenden. Doch da ist das Psychodrama schon in vollem Gang.

Meisterhaft und mit ganz ausgezeichneten Darstellern zeichnet Regisseur Ashgar Farhadi diese Parabel, dieses Gleichnis von innerer und äußerer Erschütterung, diese Geschichte von der (selbst)zerstörerischen Kraft, die von uneinsichtiger Selbstgerechtigkeit und rücksichtslosen Rachegedanken ausgehen und alle moralischen Grenzen überschreiten kann.

Eine Geschichte, die aus einer vertrauensvollen Unachtsamkeit und einer simplen, aber folgenschweren Verwechslung einen gleichermaßen enorm spannenden wie nachdenklich stimmenden emotionalen Thriller werden lässt. Chapeau!

„The Salesman“ ist als einer von fünf Filmen für den Oscar 2017 in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Fim“ nominiert. Womit bewiesen wäre, dass die iranischen Zensurbehörden falsch lagen, als sie mit der Begründung, es sei „nicht einheimisch genug“, verhindern wollten, dass er überhaupt erst eingereicht wird. Obwohl „The Salesman“ in iranischen Kinos wochenlang für überfüllte Säle gesorgt hatte.

The Salesman
Iran, Frankreich 2016
Regie: Ashgar Farhadi
Mit: Shahab Hosseini, Taraneh Alidosti u.a.
Verleih: Prokino
Laufzeit: 125 min
Start: ab 2. Februar 2017
Trailer: www.salesman-derfilm.de

Text: Erika Weisser / Bilder: © Prokino